Samstag, 6. Mai 2017

Mit offenen Augen


... stehen sie um mich herum, warten, wenn ich sitze und schaue. Ungelebt. Vielleicht bilden sie sich das auch nur ein. Dass sie unglücklich sind, sich nach Erfüllung sehnen, die sie nur in uns finden. Dabei, da bin ich mir beinahe sicher, entstehen sie in uns, leben, atmen mit uns, begleiten uns mit ihrem Dürsten an der salzigen Quelle, schauen den Himmel und könnten Blau, könnten Wolke, könnten sein, wenn, ja, wenn ...

Ob mir auch jetzt, in diesem Moment, einer von ihnen über die Schulter schaut und liest, was ich in die Tastatur hacke? Hineinschlüpft in den Text, um endlich wahr zu werden? Vielleicht nimmt er sich gerade jetzt meiner Finger an, dass sie sich lösen, loslassen. Trinkt Cello aus meinem Ohr, Haydn. Tage müssen ihnen schrecklich erscheinen. Da sind wohl nur die zähesten von ihnen unterwegs, die Verführer, die Schleicher. Lichtscheues Gesindel auf der Suche nach sicherer Beute, haltlosen Blicken auf dem Hochseil, nach versonnenden Mohnden, irgendwo.

Nachtwandler, die unter den Lidern warten auf ihre Zeit, die warten und schauen, die sehnen dich an – und dann, kaum, dass du ihrem Werben erliegst, siehst auch du sie, wie sie vor dir stehen und dich anschauen: Träume mit offenen Augen.


Ludwig Janssen © 4.3.2009

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