Gestern Nacht, draußen knackte der Frost in der
Ligusterhecke, klopfte eine Rübe an mein Fenster.
Eine Runkelrübe, eine kleine. Das ist ungewöhnlich, da Runkelrüben winters zur
Miete wohnen und sich, von Erde bedeckt, still verhalten. Sie fürchten
Frostbeulen, müssen Sie wissen. Neugierig geworden öffnete ich das Fenster und
ließ sie ins Zimmer.
Kaum, dass die Rübe von der Fensterbank ins Zimmer gehüpft war, lief sie zum
Schreibtisch und kletterte daran hinauf. Ich sah ihre für den klobigen Körper
viel zu dünnen Beinchen und wunderte mich nicht minder über die aus der Rübe
ragenden filigranen Ärmchen, mit denen sich meine Besucherin auf den Tisch
verhalf. Doch wunderte ich mich nicht lange, denn oben angelangt klappte die
Runkel auf – und ein zierliches Persönchen in weißen Stiefeln, kurzem roten
Röckchen und mit rotem Dreispitz und ebenso roter, kurzer Jacke über weißem
Blüschen sprang hervor: TÄ-TÄÄÄ!
Guten Abend, Sie sind ein - Runkelmariechen?
Wie bitte?
Ein Runkelmariechen, Sie sprangen aus einer Runkelrübe.
Ach, papperlapapp, dididi da dit, das‘ nur so’ne Art Mantel. Mir war kalt.
Sie setzte sich auf den Anspitzer neben meiner Teetasse und wärmte sich die
Hände an ihr. Kein Wunder, wer in eine Runkelrübe gehüllt und derart leicht gekleidet
im Winter unterwegs ist, friert schon mal leicht. Ich war unschlüssig, ob ich
sie mit weiteren Fragen behelligen sollte, man bekommt selten Besuch, nachts, im
Winter. So ließ ich sie sitzen und sich aufwärmen, derweil meine Finger über
die Tastatur klickerten und Sätze wie dieser sich auf dem Monitor ausbreiteten.
Eigentlich bin ich ein Funkelmariechen.
Ein was?
Ein Fun kel ma rie chen, didadi dadi dit!
Sie schüttelte den Kopf, neigte ihn zur
Seite und sah zu mir hoch:
Noch nie gehört?
Nein, nur Funkenmariechen, und, mit Verlaub, Sie sind auch wie eines gekleidet.
Ja? Ach, das … Sie strich ihre Kleidung glatt … habe ich gefunden, einer Plastikpuppe
ausgezogen, die im Rinnstein lag, draußen in der Stadt …
Draußen?
Nein? Was ist ungewöhnlich daran „draußen in der Stadt“ zu sagen?
Nun, eigentlich sagt man drinnen in der Stadt. Weil da so viele Häuser sind.
Die sind so hoch, die stehen dicht an dicht, die geben einem das Gefühl,
umgeben zu sein, wie von einem Gefäß, drin halt, in einer Stadt.
Hm …
Sie zog einen Flunsch, schien nachzudenken. Dann schaute sie unverhofft zu mir
auf, ihre Augen … noch nie zuvor sah ich ein derart tiefes Blau … strahlten:
Eben!
Eben was?
Häuser hat man dort, also Wände, die hoch sind, Wände, die grau sind, vor allem
nachts, die versperren einem den Blick zum Himmel, da ist der Horizont aus
Stein, Dächern, Mauern, die sperren einen aus – also ist man draußen, dididi
didi dadi dadidit, du Mensch da draußen in einer deiner zahlreichen Hüllen.
Draußen aus was?
Draußen aus dem, das der Himmel umgibt, dididadi didida dadit.
Hm?
Sie verdrehte die Augen:
Draußen aus dem, hm, nennen wir es - Gefühl, das nur eine Nacht unter freiem
Sternenhimmel vermitteln kann, dadida di dadit.
Ach so …
Ich gab vor zu verstehen, doch war mir nicht wirklich klar, was sie damit
meinte. Was die Kleine da auf meinem Schreibtisch in Frage stellte, war schließlich
allgemein gültige Auslegung und Perspektive. Was wusste ein solch kleines Ding,
dass allein seiner geringen Höhe wegen schon einen im Vergleich zu meinem
begrenzten Vermögens, über Ränder, und zwar Tellerränder, hinwegzusehen, schon
über Horizonte? Nichts … nichts und wieder nichts, oder?
Sie lehnte rücklings an der Teetasse, schlug die Beine übereinander,
wickelte eine ihrer langen, schwarzen Locken um den Zeigefinger und eröffnete:
Funken, klar, dass wir auch funken, aber in erster Linie funkeln wir. Wenn wir
uns versammeln in dem, was ihr Menschen Funkstille nennt. Wer sonst als wir
könnte auch das ganze Ding in Gang halten …
Wir …? Das Ding …? In Gang …?
Die Relaisstation!
Sie lachte, griff sich ein Wort aus der Tastatur und sprang wieder auf die Fensterbank:
Machst du mir bitte wieder auf, Mensch?
Relaisstation? Verwundert ging ich zum Fenster, öffnete es und komplimentierte
die Kleine mit einer Verbeugung zum Fenster hinaus:
Du nahmst dir ein Wort aus der Tastatur – welches, wozu brauchst du es? Und …
deine Rübe?
Sie winkte lachend ab:
Nur eine Rübe, was brauche ich eine Rüüübe?
Mit Dadidadi dididah, vielleicht bis zum Sommer, dann! sprang sie aus dem
Fenster, lief die Ligusterhecke entlang, dann über die Wiese den Hang hoch,
funkelte dem Horizont entgegen auf eine Gruppe weiterer Funken zu, die sich um
eine Art Maschine geschart zu haben schienen – dort verlor ihr Funkeln sich unter
seinesgleichen.
Ich rieb mir die Augen. Sie waren verschwunden, alle. Der Horizont lag wie
gewohnt auf dem Hügel gegenüber, bereit, sich in einer weiteren Ferne zu
verlieren, egal, wer ihn sich zu greifen trachtete, die Nacht ruhte auf seinen kalten
Schultern. Wolkenlos, wolkenlos und frostklirrend. Da war noch was, irgendetwas
hatte ich nicht beachtet, wahrscheinlich wars nicht groß genug oder zu klein,
vielleicht aber war ich es, der zu klein oder nicht groß genug war, es zu
fassen. Mir wurde kalt. Doch bevor ich das Fenster schloss, fiel mein Blick auf
die Sterne am Himmel, und dadidadi dadadidah schloss ich das Fenster mit einem
Seufzer.
Welches Wort wohl mochte sie sich aus der Tastatur gegriffen haben?
Ludwig Janssen ©
26.2.2013