Montag, 19. Dezember 2016

Wenn die Flut …

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH


Ein breiter Priel hinderte Ratur am Fortkommen. Hier. Hier? Warum? Warum … nicht? Ratur ging in die Hocke. Weich und kühl der Schlick unter seinen Füßen, zwischen den Zehen. Der Horizont hatte sich um Raturs Gestalt gelegt. Wo Ratur auch hinsah – er schien in jede Himmelsrichtung gesucht gleich weit entfernt, schien zum Stillstand gekommen. Über sich das strahlende Blau des Himmels setzte Ratur sich nieder, ließ sich hintenüber fallen und lauschte dem Wind, der über ihn hinwegstrich.

Kaum merklich hatte das Wasser zu steigen begonnen, kam das Meer zurück, leise, ganz leise. Umspülte kalt den Rücken. Für einen Moment, nur für einen Moment, stockte Ratur der Atem. Eine Schar Säbelschnäbler floh plüüüiiiit! von seewärts das steigende Wasser und ließ sich rings um Ratur im flachen Wasser nieder, das sie, die Schnäbel wie Sensen durchs Wasser streichend, nach Muscheln, Würmern und Schnecken durchsuchten.

Ob es wohl Menschen gäbe, die das Wesen literarischer Gestalten als das ihre annehmen? Also, anders als jene, die eine Geschichte wie die seine weiterdenken und ihn als literarische Gestalt zumindest für eine Weile unsterblich machen, eine literarische Gestalt – verkörpern? Eine besondere Form der Inkarnation. Und er, Ratur Lite, könne, derart zugelassen und aufgenommen, Mensch werden, aus Fleisch und Blut, sein Wesen in einem anderen geborgen – wie eine Seele – unauffindbar und doch das Ganze durchdringend wie ein Ruf, eine noch zu erzählende Geschichte. Gerade so, wie auch er einem Menschen und dann wieder aus vielen heraus entstanden und in die Welt entlassen worden war. Spiel. Windhauch. Das Wasser stieg.

Und stieg. Nahm von dem Blau seiner Hose und dem Titanweiß seines Hemdes, zog eine sich verlierende Spur dem Küstensaum zu. Raturs Äußeres blich aus, zog mit dem Wellenschlag und verblasste. Das Wasser reichte ihm nun bis zu den Ohren. Ratur lag, den Blick im Himmelblau, spürte dem Spiel der sachte aufrollenden und dann wieder weichenden Wellen in seinem Haar nach und streckte suchend, Michelangelo hätte seine Freude daran gehabt, den Zeigefinger aus in den wolkenlosen Himmel.


Unaufhaltsam: Das Weiß … Wie Morgensonne spürte Ratur es in sich aufgehen, erstrahlen und Raum greifen. Das Wasser begann, über ihn hinweg zu streichen. Alle Farben Raturs hatten sich dem Spiel der Strömung ergeben, waren Meer geworden. Nun folgten die Konturen. Lösten sich aus ihrem Zusammenhang und, einem tiefen, letzten Ausatmen gleich, aus der Umschreibung seiner literarischen Gestalt. Schwangen für eine Weile mit dem Seetang, bis letztendlich auch sie losließen und gingen, mit dem Wellenschlag gingen, mit der sich wiegenden Dünung.

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