Montag, 12. September 2016

Die Frau im Fenster

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH

Sie saß auf der Bank in der Fensternische, saß einfach da, einfach nur da. Ringsum geschäftiges Treiben. Weiß gekleidete Menschen liefen über den Flur und pickten sich einen Alten nach dem anderen, verschwanden mit ihm hinter sich lautlos schließenden Zimmertüren. Essenszeit vorüber, Waschen und zu Bett gehen waren an der Reihe, für jeden, auch sie. Das sagten die in Weiß jedenfalls jedem, dem sie die Hand auf die Schulter legten, zu dem sie sich hinabbeugten und den sie freundlich, jedoch bestimmt mit sich nahmen. Alles im Fluss. Alles ging seinen gewohnten Weg. Einen gewohnten Weg, der nicht der ihre war. Dies war der Weg der in Weiß Gekleideten. Noch war sie nicht an der Reihe. Da waren die Frau mit der Decke, die Frau im Rollstuhl und der Alte im Sessel gegenüber. Die mit der Decke hatte sich diese um die Schultern gelegt und schlurfte den Flur auf und ab, nestelte an ihrer Kleidung und wehrte jeden der Weißen ab, der sich ihr näherte. Die Frau im Rollstuhl war dran, warf die Arme nach vorn, als man ihren Rollstuhl nach hinten zog und mit ihr aufs Badezimmer zusteuerte. Der Mann schlief, aus seinem Mundwinkel troff ein zäher Faden Speichel. Sie weckten ihn auf, halfen ihm in den Stand und führten ihn zu einem der Zimmer. Als sie zu ihr kamen, hob sie abwehrend die Hände … bitte! … und sie wandten sich mit der ihnen eigenen zügigen Unaufhaltsamkeit der mit der Decke zu. Unter Zetern und Fuchteln brachten sie die auf deren Zimmer. Allmählich wurde es stiller.

Dann kehrte Ruhe ein.

Hatte man sie vergessen? Das Vergessen jedenfalls nicht. Es breitete sich nun schon geraume Zeit in ihrem Leben aus und nahm es in Besitz. Ergriff von ihr Besitz. Ließ sich nicht abwehren, nicht bitten. Hatte das Vergessen ihr zunächst die Erinnerung an den zurückliegenden Tag genommen, verloren sich mittlerweile schon die Ereignisse der vergangenen Stunde aus ihrem Horizont. Schlimmer noch, ihr Erkennen selbst verlor sich nach und nach. Ließ sie zurück in trügerischer Unruhe. Einstmals vertraute Gesichter fügten sich nicht mehr selbstverständlich zu Vertrautheit, Geschichten, Bedeutung. Je mehr sie ihren Halt verlor mit dem, was man Wirklichkeit nennt, je mehr ihre Sinne sie im Stich ließen, umso mehr suchte sie. Nach Ausgleich, Ruhe, ihrem inneren Gleichgewicht. Und das war nichts, was ihr Verstand ihr noch zu geben imstande war, jenes zerfallende Wrack trügerischer Selbstverständlichkeiten.

Ebbe. Sie zog sie mit sich hinaus aufs Meer, hinter den Horizont. So weit, dass nicht einmal die Möwen ihr folgen mochten.


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