Überrascht es, dass ein Mensch ein wertvolles Instrument seiner Sprache zu differenziertem Ausdruck aus der Hand geben möchte, um nicht seine Kaffeetasse absetzen zu müssen?
Wenig überraschend ist, dass manche Dinge von jedem Menschen neu entdeckt werden. So zum Beispiel das Laufen. Dabei gibt es im Grunde nur eine einzige Möglichkeit zu laufen, oder? Hm – da wäre das Laufen auf den Füßen, vorwärts, rückwärts, auf den Händen … Bei gelassener Betrachtung der Möglichkeiten dessen, was man gemeinhin Laufen nennt, scheint es mehrere Möglichkeiten zu geben, sich auf die so bezeichnete Weise fortzubewegen, an ein Ziel zu gelangen oder irgendwo hin.
Dann das Sprechen – jeder, dem es möglich ist, lernt es, entwickelt eine eigene Sprache, die nur wohlwollende Familienmitglieder verstehen, später dann eine, die im umgebenden Kulturkreis üblich ist, und noch später womöglich weitere Sprachen. Das soll, so ist man sich einig, von Vorteil sein, da man sich differenziert ausdrücken und auch Menschen verständlich machen kann, die nicht derselben Nation angehören, nicht im selben Land oder gar einem anderen Kulturkreis aufwuchsen.
Es heißt sogar, dass mit zunehmender Komplexität und daher größerem Differenzierungsvermögen der Sprache diese ein Maß für den Entwicklungsstand der Kultur sein soll, in der sie gebräuchlich ist. Da man mehr Dinge bezeichnen, feinere Unterschiede aufzeigen kann und artikulieren.
Sprache wird in Schrift transponiert. Aus dem Laut wird über eine bestimmte Zeichenfolge Wort. Mehr noch – die verbale Mitteilung, die als Schwingung der Luft vergänglich ist und beinahe virtuell, das Wort wird Ort.
Ein Ort, an dem man Bedeutung sucht, ein Ort, an dem man Bedeutung hinterlegt, ein Ort, der mit dem Lesen - im Gegensatz zur Dekohärenz, die unmöglich macht, dass eine einmal zu Ding materialisierte Quantenwolke sich wieder in eine Art Wolke zurückverwandelt - wieder Wolke werden kann, unbestimmt, und sich im Leser zu neuer, eigener Bedeutung fügt.
Die Bedeutung liegt nicht im Wort, aber je differenzierter ich meine Sprache in Wort und Schrift fügen kann, je reichhaltiger das Instrumentarium ist, das meine Kultur mir an die Hand gibt – um so differenzierter kann ich meine Sprache und somit mich ausdrücken. Meine Sprache und somit die Möglichkeit zu differenziertem Ausdruck wird größer, reicher.
Erstaunlich ist, dass Deutsche sich da über so etwas wie Groß- und kleinschreibung streiten.
Ein Volk, das mit seiner Großschreibung eine Besonderheit des Ausdrucks hat, die den Schreibweisen der Sprachen unserer Nachbarn abgeht.
Zunächst einmal zeigt eine kleine Wikiexpediation*, dass das mit der Großschreibung bei uns nicht immer so war, die Kleinschreibung eigentlich älter ist: Von der Schreibung nur in Großbuchstaben (Majuskeln), die aus dem Lateinischen herrührte, wurde unter Karl dem Großen umgestellt und alles in Kleinbuchstaben (Minuskeln) geschrieben. Kleinschreibung also, aha.
Zur Zeit des Barocks dann entwickelte sich die Großschreibung des Deutschen und breitete sich über Dänemark bis nach Norwegen aus, wo sie später wieder abgeschafft werden sollte. Auch in Deutschland war sie umstritten, und so klagte bereits einer der Brüder Grimm, ein Sammler, nicht Schreiber, über den Gebrauch großer Anfangsbuchstaben für Substantive.
Aber sie hielt sich, die Großschreibung. Zumindest in Deutschland und Luxemburg.
Die Bauhausbewegung (1925) wieder machte sich für die kleinschreibung stark. Es hieß:
: [zitiert bei WIKIPEDIA]„wir schreiben alles klein, denn wir sparen damit zeit. außerdem: warum 2 alfabete, wenn eins dasselbe erreicht? warum großschreiben, wenn man nicht groß sprechen kann?”
Auch kritische Publizisten der Weimarer Republik wie der später von den Nazis ermordete jüdische Professor Theodor Lessing** aus Hannover setzten sich für die kleinschreibung ein, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 erst einmal wieder vom Tisch war.
„Wir sparen Zeit.“
„Die Rechtschreibung wird einfacher“
„Warum groß schreiben, wenn ich nicht groß sprechen kann?“
Hm. Das sind Argumente, die heutzutage noch dankbarere Abnehmer finden, die sich um Rechtschreibung wenig scheren, die schnell tippen wollen oder schlichtweg zu träge oder faul sind, die Shift-Taste zu drücken, weil sie hierzu die Kaffeetasse absetzen müssten, aus der sie gerade nuckeln.
Hinzu kommt, dass viele Unsicherheiten in der Rechtschreibung kaschiert werden, wenn man kleinschreibt.
Ist das alles, was es zu kleinschreibung zu sagen gibt? Nein.
Andere wieder schreiben klein, weil sies schick finden. Und das nicht ohne Grund. Es gibt einige literarische Vorbilder, dies vormachen. Warum also nicht nachmachen? Schreiben wie der Österreicher Artmann, wie die Jelinek. Oder Heinrich Böll nachplappern, dass (zitiert bei Wikipedia)
eine Sprache weder an Informationswert noch an Poesie verlier[t], wenn sie von der Groß- zur Kleinschreibung übergeht.
.
Stimmt das, Herr Böll? Nein! Was ist mit den Hauptwörtern, der Großschreibung ihrer Anfangsbuchstaben – ich möchte nicht darauf verzichten, sie – und das ist ein überaus poetisches Moment unserer Großschreibung – ihr Haupt erheben lassen zu können – um sie sogleich und im passenden Moment zu schwächen und angst und bange werden zu lassen den Dingen, die ich soeben noch klar erhob, benannte, die Angst, die ANGST, die angst.
Ja! Und da ist die äußerst poetische Möglichkeit des Ausdrucks im Deutschen, über die kleinschreibung eine Sprache, die im Umgang, in der Bezeichnung klarer Verhältnisse sich der Großschreibung bedient, in eine Form zu bringen, in der Dinge ihre Kontur verlieren, Charakter, Halt …
eine sprache, die im umgang, in der bezeichnung klarer verhältnisse sich der großschreibung bedient, in eine form bringen, die den dingen kontur nimmt, charakter, halt …
Ich, ich Deutscher habe eine Schriftsprache, in der ich Dinge klein schreiben kann, wenn mir nach diesem Ausdruck ist – ich muss sie hierzu nur kleinschreiben. Das Schriftbild ist Teil meines Ausdrucks, ist Stilmittel, ist ein Instrument, das andernorts stumpf und unbekannt, da beliebig ist.
Diesen Vorzug meiner Sprache, die Schreibweise als Stilelement meines Ausdrucks nutzen zu können, werde ich nicht aus der Hand geben.
Sprache ist Stilmittel, Schrift ist Stilmittel, Schreibweise ist Stilmittel.
Sich über Großschreibung ODER kleinschreibung zu streiten ist das Geschwätz wenig phantasiebegabter Ahnungsloser.
Sprache, Ausdruck ist wesentlich wichtiger als solcher Streit. Es gilt, sich dieser Stilelemente und Möglichkeiten des Ausdrucks unserer Sprache bewusst bedienen - und seine Wahl auch vertreten zu können – wobei letzteres schön ist, wenn mans kann, aber nicht sein muss.
Überrascht es, dass Menschen lieber ein wertvolles Instrument ihrer Sprache zu differenziertem Ausdruck aus der Hand geben als ihre Kaffeetasse?
Nein. Es wird immer mehr Dilettanten geben als Könner. Doch unter den Menschen, die sich mit Sprache und Ausdruck beschäftigen oder gar daraus Kunst schaffen, wird man die nicht daran unterscheiden können, ob sie kleinschreiben oder der Großschreibung frönen, sondern an anderen Dingen, auch an solchen, die sie mit der ihnen durch unsere Sprache und deren unterschiedliche Schreibweise eröffneten Möglichkeiten aus Wort, Schrift und Sprache schöpfen, erschaffen.
Ludwig Janssen, 6.1.2010
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Literatur, Lesetipps:
* zum Thema auf Wikipedia
** Theodor Lessing zum Thema in der zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker, berlin, 28. jahrgang, mai 1931, seite 124: die großbuchstaben werden verschwinden!
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