Dienstag, 12. November 2019

ET - und: Das Gesicht verlieren




Es ist die 88, nicht die 66, über die ich nach Hause fahre … nach Hause! ET - he’s lost, he’s alone, and he’s three million lightyears from home. Asien ist auch furchtbar weit weg. Wenns doch nur voranginge. Stau.

Wieder. Zäh fließender Verkehr. Was wohl gibt’s da zu glotzen? Blinkende Lichter, Fluter, Autos kreuz und quer, eines liegt auf dem Dach, dort ein umgestürzter LKW, irgendwas in Decken, irgendwas unter Decken, irgendwas hinter Decken, ein Polizist, noch einer, Feuerwehrleute, noch mehr Feuerwehrleute, technisches Gerät, imposant. Die haben alles im Griff, die da auf der anderen Seite. Der Mittelstreifen legt sich dazwischen, eine Grenze, die nicht überschritten wird. Na, ja, da vorn ist sie ziemlich ramponiert, da ist was durch, sind die Leitplanken zerfetzt. Dort geriet die Ordnung auseinander – und doch, das alles ist so weit weg, so beruhigend weit. So wie Asien. Da muss Benzin ausgelaufen sein, man kanns riechen, gut so. Dass mans riechen kann. Das Benzin, wenn’s ausgelaufen ist. Fugu, da muss man höllisch aufpassen bei der Handhabung.

Die Gaffer kennen keine Grenze. Die glotzen und glotzen, als könnten sie nicht genug kriegen. Ihre gewachsten Blechdosen gleiten gemächlich den Schrecken entlang, das Seitenfenster runtergekurbelt. Handyphotos: Ein Rücken unter Decke beugt sich über einen Bauch unter Decke, das Haar wirr. Der Rücken mit Decke bekommt Gesicht, schaut rüber, fliehende Blässe, schaut der zu mir? Verloren schaut der, oder ist das eine? Verloren, einsam, 3 Millionen Lichtjahre entfernt von zu Hause.

Wie Asien, wie Japan. Für die Menschen dort, sagt man, gibt es nahezu nichts Schrecklicheres, als das Gesicht zu verlieren. Den weißen Japaner hats komplett zerlegt. Gott sei Dank stehen da die mit den Decken und halten die hoch, ein bisschen höher, bitte. Bereitet man Fugu zu, darf die Hand nicht zittern. Da muss man sich auskennen, das hat man im Griff, in Japan. Dort gibt’s Lizenzen, seit die eingeführt wurden, sterben nur noch ein paar Hanseln daran, am Fugu. Die mit den Handys sind auf meiner Seite und knipsen wie doll, auf der anderen Seite jedoch dasselbe, recken die Dinger aus dem Seitenfenster in die Höhe – fehlt noch, dass einer aussteigt und mit der Videokamera draufhält. Oder, in den Schalensitz gekuschelt, Notizen macht für ein Gedicht und dann so schön abstrahiert, dem Fisch die Haut vom Leib zieht, dann die Leber raus, als gäbe es kein Morgen. Oh, wie schrecklich, oh, wie schön, haste gesehn, ey, kuck ma’, haste gesehn? ET zu Hause telefonieren. Der mit Gesicht, der mit dem bleichen Gesicht, der so verloren dastand, Schemen im Gleißen der Fluter - er zitterte am ganzen Leib. Am ganzen Leib zitterte er, am ganzen Leib, das lässt mich nicht los. Da vorne tut sich was. Bald geht’s wieder voran, endlich.

Die alte Frau in Japan, in eine Decke gehüllt klammerte sie sich an einen stummen Telefonhörer … aus dem Lautsprecher an der Seite des TV-Gerätes: “… die Kommunikationssysteme sind zusammengebrochen, tausende drängen sich in den Notunterkünften und versuchen vergeblich, ihre Angehörigen zu erreichen …“ … Sie zitterte am ganzen Leib, geschüttelt hat es sie, am ganzen Leib, am ganzen Leib und Leben, mit ganzem Leib und Leben, ihr ganzes Leben und ihren schmächtigen Leib.
“… I’ll … be … right … here! …“

Irgendwo ist eine Grenze, ein Leitgedanke, Anstand. Eine Grenze zwischen Berichterstattung und Quote. Nicht so gut auszumachen wie eine zerfetzte Leitplanke, wahrscheinlich näher dran als das Gesicht mit Decke und sicherlich ebenso weit weg. Bei einem Erdbeben hilft die ruhigste Hand nichts, da gibt’s Fugu mit fliehender Blässe. Irgendwo da draußen in Japan verlieren sie zu tausenden ihr Gesicht und die mit den Kameras halten voll drauf.

Niemand, der eine Decke hochhielte in Fukushima.

Ludwig Janssen © 25.7.2012

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