Montag, 7. November 2016

Der Ausdenker

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez

Mit einem Mal fand Ratur sich wieder auf dem nachtblauen Sofa sitzend vor, in seiner Wohnung, den Kater auf dem Schoß, doch sprang der in weitem Bogen hinab und auf die Wand zu. Und im selben Augenblick, da Raturs Ausruf noch den Raum erfüllte, sprang er hindurch und verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Ratur tastete zunächst die Wand ab, die seinen suchenden Händen Widerstand bot, dann sich selbst, fuhr die Konturen seines Körpers entlang. Er existierte. Hier und jetzt. Doch irgendwo anders existierte er ebenfalls, das wusste er jetzt, und zwar nicht nur ein weiteres Mal, sondern ungezählte Male, als Idee, Geschichte. Irgendwo malte ihn irgendwer und ließ ihn neu entstehen, parallel zu seiner derzeitigen Existenz, die in auf dieses Sofa, in diese Stadt am Meer stellte.
Ermattet legte Ratur sich auf sein nachtblaues Sofa:

Wer bin ich – hier, jetzt?

Diese Frage hing im Raum. Ratur lag auf dem Rücken und schaute an die Decke. Erwartete, dass sich dort ein Bild auftat. Eines, in das er vom Sofa aus hinauf – oder hinab sehen konnte. So wie jenes Bild mit Gerda darin sich aufgetan hatte. Oder eines mit aufgewühlt wogender See darin sollte sich auftun, die ihn, Ratur, aus den Farben, mit denen er sich gemalt und festgehalten gesehen hatte, löste und mit sich fortnahm.

Wer bin ich? Hier, jetzt?

Ratur lag auf dem Rücken und, Michelangelo hätte seine Freude daran gehabt, hielt seine Rechte, den Zeigefinger wie tastend ausgestreckt Richtung Decke …

Hier nimmst du einen Anfang, jetzt. Immer wieder neu. Ratur Lite bist du, und dich habe ich ausgedacht. Gerade so, wie du da liegst und dich fragst, wer du bist …

Nichts mehr, aber auch gar nichts konnte Ratur Lite aus der Fassung bringen. Hatte er doch einen Kater sprechen, entstehen und verschwinden sehen und sich selbst transzendieren und materialisieren an ihm fremden Orten.

Du bist …?

Dein Ausdenker.

Ein Mensch?

Ja.

Warum?

Warum was?

Warum hast du mich ausgedacht?

Du entstandest, Ratur Lite, aus einer Wolke von Ideen. Bist eine der literarischen Gestalten, die in meiner Vorstellung aufgehen wie Sonnen und um die ich Geschichten kreisen lasse wie Planeten.

Das hat auch der Kater …

Ich weiß, Ratur.

Entschuldige, Mensch. Bin ich dein Geschöpf?

In gewisser Weise ja, und doch, da du, einmal erdacht, imaginiert und anderen evoziert, auch ohne mich entstehen kannst, werden und sein, auch wieder nicht.

Auch der Kater.

Auch der.

Der Kater meinte, dass ich mich an dich zu wenden habe mit meiner Angst.

Mit deiner Angst, dich aufzulösen in – nichts? Du weiß nicht, wer du bist, wenn du nicht der sein kannst, als der du selbst dich erlebst, weil andere dich erleben und deine eigentliche Existenz sich aus diesem Immer-wieder-neu-Entstehen anderer Geister als dem meinem erklärt?

Ja.


Den Menschen ergeht es nicht anders.

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