Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH |
Verdutzt sah Ratur den Kater an und
dann wieder zum Fenster hin. Gerade noch hatte er in das Leben seines
himmelblauen Gegenübers des vergangenen Tages geschaut, als spiele es sich im
Fensterglas ab. Doch das stand nun ebenso still sein Zimmer und die Nacht spiegelnd
da wie der Kater schnurrend auf seinem Schoß lag.
Ich imaginiere.
Hm?
Ich vergegenwärtige.
Was ist das, vergegenwärtigen?
Gegenwart schaffen. Gegenwartendes.
Gegenüber Wartendes. Wie der Blick auf die Frau, die dir fern ist und deren
Leben du so nah vor dir sahst als wärest du ein Teil ihrer Gegenwart. Dabei
warst und bist du ein Teil dessen, was jener Frau gegenwärtig war und ist. Auch
wenn sie sich nicht auf eine Art erinnert, die benennen kann, eure Begegnung
wirkt nach.
Wirklichkeit?
Wirklichkeit.
Wie kann ich Teil ihrer Gegenwart
sein, wenn ich ihr fern bin?
Gegenwart …
Der Kater richtete sich in Raturs
Schoß auf, fuhr sich mit der Pfote über den Kopf und schaute dem gespannt
Wartenden in die Augen.
… ist eine amorphe Begrifflichkeit und
ihre Bedeutung wird überbewertet.
Gegenwart ist wichtig, sie ist die
einzige Zeitspanne, die uns bleibt, sie ist das Hier und Jetzt, in dem wir
leben, in dem wir uns aufhalten können, sie ist … real, ist - die Wirklichkeit!
Kaum.
Was?
Die Augen des Katers schillerten, sie
illuminierten das Antlitz ihres gegenwärtigen Gegenübers …
Wenn die Gegenwart das Hier und Jetzt
ist, machst du sie abhängig vom Raum, von einer Örtlichkeit , die du Hier
nennst. Armer Ratur, und - wann ist J E T Z T? Du kannst es nicht greifen. Es
sagen zu wollen ist Zukunft und es gesagt haben Vergangenheit. Beides Zeiten
mit Tiefe. Die Gegenwart selbst ist, auf ihr Wesentlichstes beschränkt, nicht
mehr als ein Übergang, ist Windhauch, ist zweidimensional, nicht greifbar.
… und Ratur spürte, wie all das, was
ihm Gewissheit war und ihn mit der Erde um die Sonne drehen ließ, sich löste
wie Salz in Wasser. Zu Zweifel. Zu etwas, das zu schmecken, ahnen war und doch
weder einzusehen noch zu greifen.
Was du Gegenwart nennst, Ratur, Leben
im Hier und Jetzt, ist eine Zeitspanne. Die Weile, die das Werden und Vergehen
durch dich hindurch weht, da begegnen sich in dir Vergangenheit und Zukunft,
wie auch Himmel und Meer es dort tun, wo du den Horizont annimmst, an dem dein
Auge und Sehnen sich festhalten und der doch unerreichbar ist. Zweidimensional
ist die Gegenwart und als Idee gegenwärtig, jedoch nicht greifbar, nicht zu
erreichen.
Zweidimensionales nicht erreichbar?
Dass ich nicht lache! Ich zeichne mit einem Bleistift eine Fläche und …
Ratur, einen Umriss zeichnest du.
Vielleicht den eines Kreises, eines Quadrates. Du zeichnest eine Idee. Die Idee
einer Zweidimensionalität, die zu erschaffen du nicht in der Lage bist. Die
Idee erschaffst du, kannst sie vermitteln. Doch zeichnest du auf einem
dreidimensionalen Blatt Papier, und selbst deine Zeichnung ist, geht man ins
Kleinste und betrachte den Graphitabrieb, ein dreidimensionales Gebilde. Du
kannst nichts Zweidimensionales erschaffen. Unser Universum selbst ist eine
dreidimensionale Beschränkung, innerhalb derer wir uns aufzuhalten haben.
Und das Hier und Jetzt, in dem zu
leben wir erstreben sollten?
Auch das halte ich für eine Floskel,
Ratur. Frag einmal Gerda. Wenn jemand im Hier und Jetzt leben muss, noch dazu
in einem in Auflösung begriffenen, dann sie. Sie fällt aus den Gezeiten.
Zukunft kann sie sich nicht mehr fügen – sie wird sie hinnehmen müssen wie die
zurückkehrende Flut. Mit dem, was ihr die schwindende Ratio an Werkzeug zu
verstehen lässt, als Gefäß zu fassen, zu begreifen. Eines nicht allzu fernen
Tages werden Flut und Zukunft über sie hinweggehen wie über ein im Watt
gestrandetes Stück Treibholz. Dann verliert sich das Vergangene mit all ihren
gelebten Tagen darin, auch mit den ihr noch kommenden Tagen, wie Ebbe, eine
letzte Ebbe. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie, solange ihr das noch
bewusst werden kann, sich wohl dabei fühlt.
Und die Idee selbst, Kater?
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