Montag, 10. Oktober 2016

Was machst du da?

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH

Verdutzt sah Ratur den Kater an und dann wieder zum Fenster hin. Gerade noch hatte er in das Leben seines himmelblauen Gegenübers des vergangenen Tages geschaut, als spiele es sich im Fensterglas ab. Doch das stand nun ebenso still sein Zimmer und die Nacht spiegelnd da wie der Kater schnurrend auf seinem Schoß lag.

Ich imaginiere.

Hm?

Ich vergegenwärtige.

Was ist das, vergegenwärtigen?

Gegenwart schaffen. Gegenwartendes. Gegenüber Wartendes. Wie der Blick auf die Frau, die dir fern ist und deren Leben du so nah vor dir sahst als wärest du ein Teil ihrer Gegenwart. Dabei warst und bist du ein Teil dessen, was jener Frau gegenwärtig war und ist. Auch wenn sie sich nicht auf eine Art erinnert, die benennen kann, eure Begegnung wirkt nach.

Wirklichkeit?

Wirklichkeit.

Wie kann ich Teil ihrer Gegenwart sein, wenn ich ihr fern bin?
Gegenwart …

Der Kater richtete sich in Raturs Schoß auf, fuhr sich mit der Pfote über den Kopf und schaute dem gespannt Wartenden in die Augen.

… ist eine amorphe Begrifflichkeit und ihre Bedeutung wird überbewertet.

Gegenwart ist wichtig, sie ist die einzige Zeitspanne, die uns bleibt, sie ist das Hier und Jetzt, in dem wir leben, in dem wir uns aufhalten können, sie ist … real, ist - die Wirklichkeit!

Kaum.

Was?

Die Augen des Katers schillerten, sie illuminierten das Antlitz ihres gegenwärtigen Gegenübers …

Wenn die Gegenwart das Hier und Jetzt ist, machst du sie abhängig vom Raum, von einer Örtlichkeit , die du Hier nennst. Armer Ratur, und - wann ist J E T Z T? Du kannst es nicht greifen. Es sagen zu wollen ist Zukunft und es gesagt haben Vergangenheit. Beides Zeiten mit Tiefe. Die Gegenwart selbst ist, auf ihr Wesentlichstes beschränkt, nicht mehr als ein Übergang, ist Windhauch, ist zweidimensional, nicht greifbar.

… und Ratur spürte, wie all das, was ihm Gewissheit war und ihn mit der Erde um die Sonne drehen ließ, sich löste wie Salz in Wasser. Zu Zweifel. Zu etwas, das zu schmecken, ahnen war und doch weder einzusehen noch zu greifen.

Was du Gegenwart nennst, Ratur, Leben im Hier und Jetzt, ist eine Zeitspanne. Die Weile, die das Werden und Vergehen durch dich hindurch weht, da begegnen sich in dir Vergangenheit und Zukunft, wie auch Himmel und Meer es dort tun, wo du den Horizont annimmst, an dem dein Auge und Sehnen sich festhalten und der doch unerreichbar ist. Zweidimensional ist die Gegenwart und als Idee gegenwärtig, jedoch nicht greifbar, nicht zu erreichen.

Zweidimensionales nicht erreichbar? Dass ich nicht lache! Ich zeichne mit einem Bleistift eine Fläche und …

Ratur, einen Umriss zeichnest du. Vielleicht den eines Kreises, eines Quadrates. Du zeichnest eine Idee. Die Idee einer Zweidimensionalität, die zu erschaffen du nicht in der Lage bist. Die Idee erschaffst du, kannst sie vermitteln. Doch zeichnest du auf einem dreidimensionalen Blatt Papier, und selbst deine Zeichnung ist, geht man ins Kleinste und betrachte den Graphitabrieb, ein dreidimensionales Gebilde. Du kannst nichts Zweidimensionales erschaffen. Unser Universum selbst ist eine dreidimensionale Beschränkung, innerhalb derer wir uns aufzuhalten haben.

Und das Hier und Jetzt, in dem zu leben wir erstreben sollten?

Auch das halte ich für eine Floskel, Ratur. Frag einmal Gerda. Wenn jemand im Hier und Jetzt leben muss, noch dazu in einem in Auflösung begriffenen, dann sie. Sie fällt aus den Gezeiten. Zukunft kann sie sich nicht mehr fügen – sie wird sie hinnehmen müssen wie die zurückkehrende Flut. Mit dem, was ihr die schwindende Ratio an Werkzeug zu verstehen lässt, als Gefäß zu fassen, zu begreifen. Eines nicht allzu fernen Tages werden Flut und Zukunft über sie hinweggehen wie über ein im Watt gestrandetes Stück Treibholz. Dann verliert sich das Vergangene mit all ihren gelebten Tagen darin, auch mit den ihr noch kommenden Tagen, wie Ebbe, eine letzte Ebbe. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie, solange ihr das noch bewusst werden kann, sich wohl dabei fühlt.


Und die Idee selbst, Kater? 

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