Montag, 26. September 2016

Wo bist du, Kay?

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH


Gerda hatte sich unter der Bettdecke zusammengerollt, lugte aus großen Augen darunter hervor zum Fenster hin. Kühl flutete der volle Mond ihr kleines Zimmer. Im Spiel seines bleichen Lichts mit den langen Schatten der spärlichen Einrichtung nahmen sich das Dunkel ein wenig tiefer und ihre Welt ein wenig kleiner aus, als sie es ohnehin bereits waren.

Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen …

Gerdas Stimme war mit ihr gealtert. Schon lange hatte sie von der Wärme verloren, mit der ihr schon die Mutter Geborgenheit und Orientierung zur Nacht gesungen hatte. Zur Nacht, die sich, derart besänftigt, einer warmen Decke gleich mit ihren Sternen um die kleine Gerda gelegt und alles Bangesein vergessen gemacht hatte.

… am Himmel hell und klar.

Hell und klar. Das Helle war geblieben. Dem Tag. Dem grellen Licht auf den Fluren. Ein paar wenigen heiteren Augenblicken. Klarheit … K l a r h e i t … Dieses Wort war ihr fremd geworden. Ich weiß nur mehr: ich küsste es dereinst.

Das Mondlicht verlor sich im Laub der Baumkronen vor ihrem Fenster, glomm auf, wenn der Wind hinein griff. Dann legte es sich in silbrigem Widerschein auf ein schweigend wartendes Meer.

… steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget …

Einsamkeit. Nicht die, an deren Schulter gut anlehnen ist und nachdenken, nein. Die kalte, die sich ums Herz legt wie der Kuss der Schneekönigin. Die, die Angst macht.

… der weiße Nebel wunderbar. Wie ist die Welt so stille …

Und des Vergessens Hülle so weich und weiß wie Schnee. Das Glück verlernt zu fliegen. Verlassensängste fügen sich zum Wogen eiseskalter See.

Wäre ihre Suche nach ihrem Kay nicht so alt wie ihr Lieben, Gerda hätte auch sie schon längst vergessen. Zur See war ihr Liebster gefahren, einen Splitter im Auge und einen Splitter im Herzen. Die See war es auch, der sie ihr vergebliches Warten auf ihn anvertraut hatte, ihr Vergessen ob des Wartens. Schließlich auch das Warten selbst, das sie vergaß. Das Warten, das sich mit gelebten Stunden und Tagen aus ihren Leben verloren hatte und nun wieder anlandete. Gelebt sein musste. Mit Stunden zunächst, dann mit Tagen. Tagen ohne irgendeinen Kay, doch mit einer wartenden Gerda darin. Sich in der Dünung wiegendes Treibgut landete mit dem Warten dann auch das Suchen wieder an, haltlos, und rollte mit zerschlagenen Schneckenhäusern den Strand hinauf. Suche. Nach was auch immer. Ihr rastloses Suchen trug keinen Namen mehr. Wenn es doch nur ein wenig erinnerte an die Gewissheit, in den Arm genommen worden zu sein, an Geborgenheit, daran, wie es ist, wenn man sich angekommen fühlt und zu Hause. Wenn es doch nur erinnerte.

Gerda lag da mit geöffneten Augen … dass sie lag … eigentlich tat es nichts zur Sache. Das Vergessen nahm allmählich ihr Erinnern aus dem Spiel, dem Zusammenspiel, der … Harmonie, ging es ihr durch den Sinn. Derweil ihr Sehnen nach flüchtiger Geborgenheit einer sich neu findenden Balance galt - mit Gerdas haltlosem Suchen darin im immer wieder anlandenden Wellenschlag vor ihrem Fenster.

Die weiß ich noch und werd ich immer wissen / Sie war sehr weiß und kam von oben her.


Diese Sequenz enthält Passagen aus
Matthias Claudius: Abendlied
Bert Brecht: Erinnerung an die Marie A

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