Samstag, 12. März 2011

Das Einhuhn

Am Cidre konnte es nicht gelegen haben. Auch nicht am König-Ludwig-Brot. Eher schon an der vorgerückten Stunde. Die schien nicht nur ein wenig zu weit vorgerückt, sondern auch vom Kurs abgekommen zu sein. Verrückt. Mit Gewissheit wird niemand erklären können, woran es lag. Was? Nun, alles begann damit, dass es im Monitor knisterte:

Ein winziger silberner Punkt wuchs und schwoll an, löste sich aus dem Flimmern des Bildschirms. Links oben, dort, wo die Meldungen über eingegangene Mitteilungen stehen. Eine Turritella, dachte ich, Turritella communis. Denn das, was aus dem Bildschirm wuchs und zugleich dem rechten unteren Bildschirmrand zustrebte, glich dem Gehäuse einer Turmschnecke. Silbern. Dieses silberne Schneckenhäuschen wuchs aus dem Monitor, glitzerte kühl, und dort, wo es die Zweidimensionalität der auf die Rückseite des Bildschirm projizierten Bilder verließ, schienen Glas und Projektion ins Schwimmen geraten, verliefen sich in nach außen hin größer werdenden Kreisen, gerade so, als ob jemand einen Stein in ein stilles Wasser geworfen hätte.

Dann tauchte der Kopf eines Huhns auf - und das Schneckenhäuschen entpuppte sich als dessen Silberhorn. Das Einhuhn! Vorsichtig streckte es seinen Hals vor, schaute nach links, schaute nach rechts und legte dabei das Köpfchen ein wenig schief, gerade so, wie Hühner es zu tun pflegen, da ihr Gesichtsfeld durch die seitlich am Kopf liegenden Augen nach vorn hin eingeschränkt ist.

Ich hielt die Luft an und rührte mich nicht. Hühner sind schreckhafte Wesen.

Jetzt streckte es sein rechtes Beinchen vor, setzte es auf den Rand des Monitors. Dann, nach neuerlichem Zögern und Sichern, folgte das linke Bein. Das Einhuhn hockte nun da und sah sich um. Es hatte die Größe eines Rebhuhns. Sein Gefieder schien ein wenig pixelig geraten, unscharf. Schwarz, Weiß und alle denkbaren Schattierungen Grau changierten - wie Seide. Doch anders als dieser Stoff schien es transluzent und schimmerte durch das vom Bildschirm emittierte Licht. Das Einhuhn plusterte sich auf, schüttelte sich und reckte den Hals nach unten, wobei es mit wiederum schiefgelegtem Köpfchen das Durcheinander auf meinem Schreibtisch musterte. Gerade so, als suche es nach einem sicheren Weg durch die Unordnung.

Es sah allerliebst aus, das gehörnte Einhühnchen mit seinen großen, runden Pupillen in rubinroter Iris, denen ich Staunen, Furcht und Neugier zugleich auslesen zu können meinte. Warum wohl stattete es gerade mir seinen nächtlichen Besuch ab? Zu fragen traute ich mich nicht. Hühner sind schließlich schreckhafte Wesen, wie wir wissen.

Im selben Moment, als ich die Luft nicht mehr anhalten konnte und seufzend aus- und wieder einatmete, hüpfte das Einhuhn aus der Hocke heraus auf den Schreibtisch und tippelte hastig vom Monitor weg an mir vorbei aufs Bücherregal zu. Dabei ruckte sein Kopf vor und zurück, wie man es von allen Hühnern kennt, und sein silbernes Hörnchen stieß dabei winzige freche Kringel in die Luft. Das Hühnchen sprang über das geknüllte Papiertaschentuch, den Teebeutel von gestern, Hemingsways „Paris – ein Fest fürs Leben“, nahm die philosophische Hintertreppe mit einem beschwingten Hüpfer, pickte sich ein paar Buchstaben aus dem Telefonbuch und verschwand in der Unordnung meines Bücherregals. Irgendwo hinter den Kladden, den Zigarrenkisten mit den Buntstiften und den mattierten Glasscheiben darin deutete sein Schimmern an, wo es sich gerade befand. Hinter der halben Kalebasse aus Ouagadougou schließlich verlosch das Leuchten, wurde es dunkel. Wahrscheinlich hatte das Einhuhn sich darin schlafen gelegt, vielleicht aber auch hatte es einen Weg aus meiner Realität gefunden und war ebenso unverhofft, wie es auftauchte, wieder verschwunden.

Nachzuschauen traute ich mich nicht, wollte ich doch das scheue Tier nicht erschrecken. Es war spät geworden. Bald würde ich viel zu früh aus den Federn müssen und, Einhuhn hin, Einhuhn her, meine Brötchen verdienen. Eines davon würde ich für das Einhuhn mitbringen, ein Mohnbrötchen vielleicht, mit Buchstaben bestreuseln und ins Regal legen. Ich fuhr den PC herunter, schaltete ihn aus, legte mich schlafen und löschte das Licht. Zuvor jedoch ermahnte ich noch meine Katze, die das seltsame Schauspiel Gott sei Dank verschlafen hatte, das Einhuhn in Ruhe zu lassen, sollte es wieder auftauchen. Sie blinzelte zustimmend und rollte sich in meinen Kniekehlen ein.

Wir schliefen beide tief und traumlos, als leises Knistern vom Fußboden her mich weckte. Verschlafen sah ich das Einhuhn tippeln, es suchte die dort verstreuten Blätter mit der Geschichte über ein Einhuhn mit Silberhörnchen nach Buchstaben ab und i-Punkten, pickte nach einer Zitterspinne und scheuchte eine verirrte Ameise vor sich her. Das Zimmer war dunkel, doch das Einhühnchen schimmerte noch immer. Monden, von innen her. Ich sah, wie es auf den Stuhl mit den Wörterbüchern hüpfte, von dort auf den leeren Stuhl und von dessen Lehne aus flatterte es auf den Schreibtisch.

Dann, mit einem kleinen Hüpfer, hockte es sich wieder auf den Rand des Monitorgehäuses, streckte seinen Kopf durchs Glas in die dahinter liegende Zweidimensionalität von Was-weiß-ich und schlüpfte hinein. Das Letzte, was ich vom Einhühnchen sah, war sein schwarz-weiß-grau changierender Bürzel mit einer winzigen silbrigen Rosette in der Mitte, aus der es mir in hohem Bogen einen weichen Gruß mit unverdaulichen Worthülsen darin auf die Tastatur kleckste, bevor es im Dunkel verschwand.



Ludwig Janssen © 15.3.2010


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