Mittwoch, 1. Mai 2013

Singen vor Schneckenhäuschen

Zu den Sonderlichtungen meines Lebens gehört, dass sich mir unvorhergesehen schon einige Ringe schlossen, Dinge und Erlebensstränge ineinander fügten, die unabhängig voneinander und unabhängig von mir ihren Lauf genommen hatten und sich in einem bestimmten Punkt meines Erlebens kreuzten.

Eigentlich widerfährt uns so etwas jeden Tag, bei jeder neuen Begegnung – auch der junge Mann gehört dazu, der uns morgen in der Fußgängerzone zulächelt und grüßt, ohne dass wir uns kennen oder kennen lernen, – und mit ziemlicher Sicherheit lassen wir die Gelegenheit dazu ungenutzt verstreichen.

Doch gibt es Momente, in denen sich mir ein Zeitfenster auftut, durch das ich mir selbst begegne. Mag sein, dass man dazu ein gewisses Alter erreicht haben muss, ich weiß es nicht, weiß nur, dass mir die Erinnerung, von der ich erzählen möchte, zwar immer präsent, jedoch Fragment war, kleines Fitzelchen aus Kindertagen.

Sicher ist jedoch, dass man wohl nur als Kind auf diese Weise erleben kann – die Welt überschaubar und wohl geordnet, alles ist, wie es sein soll, auch die weniger schönen Dinge. Das Schicksal - nicht mehr als ein aufgeschlagenes Buch, und die Erwachsenen, die sich hin und wieder zu dir hinunter beugen, um dir einen Kuss auf die Stirn zu drücken oder etwas wegzunehmen, lesen daraus vor und erklären, was das alles zu bedeuten hat.

Mein Heimatplanet reichte von den Waben des Glockenturms, durch die nur wir Jungs schlüpfen konnten, an der Kirche vorbei über den Spielplatz zum Wirtshaus an der Kreuzung zur Schuhfabrik , wo auch der Metzger und der Gemüsehändler zu finden waren, von da zum Gemischtwarenladen in seinem Zentrum, und von dort bis zur Schule mit der Wiese davor, berührte dann das anschließende Weizenfeld daneben und führte am Kindergarten vorbei wieder zurück in die Straße, in der wir wohnten. Damit sind alle sieben Kontinente aufgeführt, die Inseln mit Johnny, der Lakritzzigaretten und Murmeln aus Ton verkaufte, dem Kirmesplatz, mit dem alten Friedhof, auch die Insel mit der alten Kapelle, wo der tote Pfarrer aufgebahrt gelegen hatte, und das Spritzenhaus der Feuerwehr mal nicht mitgerechnet.

Auf diesem Planeten, die Erwachsenen sprachen untereinander eine Geheimsprache, von der meine Kindergärtnerin, die Lehrer, der Pfarrer und andere liebenswürdige Außerirdische nichts wussten, hielt ich mich auf den unterschiedlichen Kontinenten auf, aß in fremden Häusern und übernachtete auch in dem einen oder anderen. Das ergab sich immer, dann tauchten Menschen vor mir auf und nahmen mich bei der Hand, Menschen, deren Gesichter mir zwar bekannt, deren Namen mir jedoch entfallen waren und an die ich mich meinem Vater nach natürlich zu erinnern hatte. Zum Teil gehörten sie zu den grünen Männern mit Federwuschen am Hut, die an Kirmestagen auf den Holzvogel beim Wirtshaus schossen, zum Teil sangen sie recht gern oder trugen an den Wochenenden Armbinden mit Kreuz, rotes Kreuz auf weißem Grund, wenn bei Moyland die großen Pferde unterwegs waren und schon einmal ein Sulky in die Menge flog, imposante Reiter auf noch imposanteren, immer streng riechenden Riesen über bunte Stangen flogen oder sie rannten sonntags mit meinem Vater über den Fußballplatz, wenn die Männer auf dem Rasen schrieen und sich das Schienbein hielten. Diese Männer also gaben mich weiter an ihre Frauen und die gaben mir an manchen Tagen zu essen oder sie ließen mich auch bei sich wohnen. Die Welt war ein Abenteuer. Sonntags mit dem Vater ins Wirtshaus. Während er bei Diedenhoven kellnerte, holte ich mein Meerschweinchen aus dem Schuhkarton und ließ es über den Billardtisch laufen, Hauptsache, dass ich die Köttel schnell genug verschwinden ließ, wochentags nahm er mich manchmal mit auf seine Abenteuer, wo er mit Licht brutzelte, in das ich nicht hingucken durfte, wos immer toll nach Öl, Eisen und Caramba roch und es hin und wieder Kälbchen gab zum Streicheln, auch große Frauen mit dicken Butterbroten, jede Menge Himmel hinterm Sommerdeich und Fahrtwind auf Vaters Moped hinter seinem breiten, verschwitzten Rücken, sonntags weißes Hemd, wochentags Blaumann, Henkelmann und Hasenbrote.

Und das Haus in der Schulstraße gab es. Manchmal war es eben Tante Elisabeth aus dem Kindergarten, die mich an die Hand nahm und dort hin brachte. Das Haus lag nah beim Gemischtwarenladen Vergeest im Zentrum des Planeten und nicht weit von dort, wo ich zwar eigentlich wohnte, aber nicht immer sein konnte. Hier wohnten Opa Verkoeverden und Oma Verkoeverden, war die Welt überschaubar und interessant, voller Frauen, die so gut dufteten wie meine Tante Elisabeth, ihre große Schwester, gab es ein eigenes Zimmer für mich unterm Dach, leckeres Essen und die beste Gesellschaft der Welt: Großeltern! Dass sie nicht meine waren, war mir schon irgendwie klar, aber wenn ich sie so nennen und bei ihnen essen und schlafen durfte, war das eigentlich dasselbe wie richtige Großeltern. Das Haus, die ganze Welt bei den Verkoeverdens war eine große grüne Murmel, jedenfalls erinnere ich es wohl auf diese Weise, weil man aus beinahe jedem Fenster ins Grüne schaute. In den großen Garten, unter den Obstbäumen das Regenfass am Hühnerstall, und selbst ganz oben, wo mein Bett im Zimmer am Ende der steilen Treppe stand, schaute ich aus dem kleinen Fenster unterm Dach in die Kronen riesiger Bäume, die alles Licht und damit meine Welt irgendwie grün machten, wenn ich einschlafen sollte, jedenfalls im Sommer.

Der Moment, der sich mir vor ein paar Tagen nach über fünfundvierzig Jahren wieder öffnete und in mir aufging wie frische Saat, dieser Augenblick, in dem ein weiterer großer Kreis sich mir schloss und mich ein wenig weiser in dieser Zeit zurückließ, in die ich nicht hineingehöre, gehörte nicht zu den großen Erinnerungen, Streichen, Dramen, sondern war einer von der leisen Sorte. Ob es regnete? Ob die Sonne schien? Ich weiß noch nicht einmal, in welchem Zimmer ich war, aber es war bestimmt die Küche von Oma Verkoeverden - und sie wird in der Nähe gewesen sein, denn wirklich allein ließ niemand seine Kinder in diesen Tagen, und ich, der ich doch das Kind vieler Menschen war, weiß das noch heute.

 Grüner Glasmurmelaugenblick. Durch die Fensterscheiben Lichtreflexe aus dem Bäumen und Sträuchern ringsum. Vor mir ein Weckglas mit Schnecken, Hainschnecken darin von der letzten Expedition in den Urwald hinterm Hühnerstall. Einige Prachtexemplare lagen davor und warteten, in ihre gebänderten Häuser zurückgezogen, dass meine neugierigen Tippfinger und ich aus ihrem Leben verschwänden. Ich meinerseits wartete darauf, dass die Schnecken sich zeigten, schließlich hatte ich ihnen Salat gebracht. Wer immer mir das mit dem Singen beigebracht hatte, oder ob ich selbst darauf gekommen war (natürlich habe ich Opa Verkoeverden in Verdacht, er hat mir schließlich auch gezeigt, das Holzklompen in Regenfässern zu Schubschiffen werden und dass man Hühner mit Kalkeiern bescheißen kann), auf jeden Fall saß ich vor den Schneckenhäuschen und sang ein besonderes Schneckenlied, das auch heute noch Schnecken aus ihren Häuschen lockt, wenn sie es hören. Wenn sie es hören, hm, damals war ich überzeugt, dass es so und nicht anders sei, schließlich ließen sie sich immer nach einer Weile tatsächlich blicken und fraßen vom Salat. Da saß also in einem fremden Haus ein kleiner Junge, dessen Welt so übersichtlich war wie ein Goldfischglas, vor einem Einmachglas mit Schnecken darin und sang denen ein Lied vor. Derweil fürchtete sich irgendwo außerhalb dieses grünen Glasmurmelaugenblicks seine Mutter ihr langwieriges Sterben entlang, machte der große Bruder den Haushalt und arbeitete der Vater tagein, tagaus an den unterschiedlichsten Stellen, um das Geld für die außergewöhnlichsten Behandlungen zusammenzukriegen.

Als dieser Kreis sich vor ein paar Tagen schloss, sah ich meinen Zirkelschneck und seine Lieder mit anderen Augen, wusste ich meine Welt in der großen wieder klein werden und in ein Goldfischglas passen, mich selbst in einem Schneckenhaus, vor dem derselbe kleine Junge sitzt und singt, überzeugt, dass alle, die dieses besondere Lied hören können, ihr Schneckenhaus verlassen. Seit sich mir dieser Kreis schloss, sitze ich da und lausche ...


Ludwig Janssen © 25.8.2008

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