Eigentlich widerfährt uns so etwas jeden Tag, bei jeder
neuen Begegnung – auch der junge Mann gehört dazu, der uns morgen in der
Fußgängerzone zulächelt und grüßt, ohne dass wir uns kennen oder kennen lernen, –
und mit ziemlicher Sicherheit lassen wir die Gelegenheit dazu ungenutzt
verstreichen.
Doch gibt es Momente, in denen sich mir ein Zeitfenster auftut,
durch das ich mir selbst begegne. Mag sein, dass man dazu ein gewisses Alter
erreicht haben muss, ich weiß es nicht, weiß nur, dass mir die Erinnerung, von
der ich erzählen möchte, zwar immer präsent, jedoch Fragment war, kleines
Fitzelchen aus Kindertagen.
Sicher ist jedoch, dass man wohl nur als Kind auf diese
Weise erleben kann – die Welt überschaubar und wohl geordnet, alles ist, wie es
sein soll, auch die weniger schönen Dinge. Das Schicksal - nicht mehr als ein
aufgeschlagenes Buch, und die Erwachsenen, die sich hin und wieder zu dir
hinunter beugen, um dir einen Kuss auf die Stirn zu drücken oder etwas
wegzunehmen, lesen daraus vor und erklären, was das alles zu bedeuten hat.
Mein Heimatplanet reichte von den Waben des Glockenturms,
durch die nur wir Jungs schlüpfen konnten, an der Kirche vorbei über den
Spielplatz zum Wirtshaus an der Kreuzung zur Schuhfabrik , wo auch der Metzger und
der Gemüsehändler zu finden waren, von da zum Gemischtwarenladen in seinem
Zentrum, und von dort bis zur Schule mit der Wiese davor, berührte dann das
anschließende Weizenfeld daneben und führte am Kindergarten vorbei wieder
zurück in die Straße, in der wir wohnten. Damit sind alle sieben Kontinente
aufgeführt, die Inseln mit Johnny, der Lakritzzigaretten und Murmeln aus Ton verkaufte, dem Kirmesplatz, mit dem alten Friedhof, auch die Insel mit der
alten Kapelle, wo der tote Pfarrer aufgebahrt gelegen hatte, und das
Spritzenhaus der Feuerwehr mal nicht mitgerechnet.
Auf diesem Planeten, die Erwachsenen sprachen untereinander
eine Geheimsprache, von der meine Kindergärtnerin, die Lehrer, der Pfarrer und
andere liebenswürdige Außerirdische nichts wussten, hielt ich mich auf den
unterschiedlichen Kontinenten auf, aß in fremden Häusern und übernachtete auch
in dem einen oder anderen. Das ergab sich immer, dann tauchten Menschen vor mir
auf und nahmen mich bei der Hand, Menschen, deren Gesichter mir zwar bekannt,
deren Namen mir jedoch entfallen waren und an die ich mich meinem Vater nach natürlich
zu erinnern hatte. Zum Teil gehörten sie zu den grünen Männern mit Federwuschen
am Hut, die an Kirmestagen auf den Holzvogel beim Wirtshaus schossen, zum Teil
sangen sie recht gern oder trugen an den Wochenenden Armbinden mit Kreuz, rotes
Kreuz auf weißem Grund, wenn bei Moyland die großen Pferde unterwegs waren und
schon einmal ein Sulky in die Menge flog, imposante Reiter auf noch
imposanteren, immer streng riechenden Riesen über bunte Stangen flogen oder sie
rannten sonntags mit meinem Vater über den Fußballplatz, wenn die Männer auf
dem Rasen schrieen und sich das Schienbein hielten. Diese Männer also gaben
mich weiter an ihre Frauen und die gaben mir an manchen Tagen zu essen oder sie
ließen mich auch bei sich wohnen. Die Welt war ein Abenteuer. Sonntags mit dem
Vater ins Wirtshaus. Während er bei Diedenhoven kellnerte, holte ich mein
Meerschweinchen aus dem Schuhkarton und ließ es über den Billardtisch laufen,
Hauptsache, dass ich die Köttel schnell genug verschwinden ließ, wochentags
nahm er mich manchmal mit auf seine Abenteuer, wo er mit Licht brutzelte, in
das ich nicht hingucken durfte, wos immer toll nach Öl, Eisen und Caramba roch und
es hin und wieder Kälbchen gab zum Streicheln, auch große Frauen mit dicken
Butterbroten, jede Menge Himmel hinterm Sommerdeich und Fahrtwind auf Vaters
Moped hinter seinem breiten, verschwitzten Rücken, sonntags weißes Hemd,
wochentags Blaumann, Henkelmann und Hasenbrote.
Und das Haus in der Schulstraße gab es. Manchmal war es eben
Tante Elisabeth aus dem Kindergarten, die mich an die Hand nahm und dort hin
brachte. Das Haus lag nah beim Gemischtwarenladen Vergeest im Zentrum des
Planeten und nicht weit von dort, wo ich zwar eigentlich wohnte, aber nicht
immer sein konnte. Hier wohnten Opa Verkoeverden und Oma Verkoeverden, war die
Welt überschaubar und interessant, voller Frauen, die so gut dufteten wie meine
Tante Elisabeth, ihre große Schwester, gab es ein eigenes Zimmer für mich unterm
Dach, leckeres Essen und die beste Gesellschaft der Welt: Großeltern! Dass sie
nicht meine waren, war mir schon irgendwie klar, aber wenn ich sie so nennen
und bei ihnen essen und schlafen durfte, war das eigentlich dasselbe wie
richtige Großeltern. Das Haus, die ganze Welt bei den Verkoeverdens war eine
große grüne Murmel, jedenfalls erinnere ich es wohl auf diese Weise, weil man
aus beinahe jedem Fenster ins Grüne schaute. In den großen Garten, unter den Obstbäumen
das Regenfass am Hühnerstall, und selbst ganz oben, wo mein Bett im Zimmer am
Ende der steilen Treppe stand, schaute ich aus dem kleinen Fenster unterm Dach
in die Kronen riesiger Bäume, die alles Licht und damit meine Welt irgendwie
grün machten, wenn ich einschlafen sollte, jedenfalls im Sommer.
Der Moment, der sich mir vor ein paar Tagen nach über
fünfundvierzig Jahren wieder öffnete und in mir aufging wie frische Saat,
dieser Augenblick, in dem ein weiterer großer Kreis sich mir schloss und mich
ein wenig weiser in dieser Zeit zurückließ, in die ich nicht hineingehöre,
gehörte nicht zu den großen Erinnerungen, Streichen, Dramen, sondern war einer
von der leisen Sorte. Ob es regnete? Ob die Sonne schien? Ich weiß noch nicht
einmal, in welchem Zimmer ich war, aber es war bestimmt die Küche von Oma
Verkoeverden - und sie wird in der Nähe gewesen sein, denn wirklich allein ließ
niemand seine Kinder in diesen Tagen, und ich, der ich doch das Kind vieler
Menschen war, weiß das noch heute.
Als dieser Kreis sich vor ein paar Tagen schloss, sah ich
meinen Zirkelschneck und seine Lieder mit anderen Augen, wusste ich meine Welt
in der großen wieder klein werden und in ein Goldfischglas passen, mich selbst
in einem Schneckenhaus, vor dem derselbe kleine Junge sitzt und singt,
überzeugt, dass alle, die dieses besondere Lied hören können, ihr Schneckenhaus
verlassen. Seit sich mir dieser Kreis schloss, sitze ich da und lausche ...
Ludwig Janssen © 25.8.2008
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