Dienstag, 9. April 2013

Nur Sterne (und Alpha-Centauri)

An Gleis 17 küssen sich zwei zum Abschied durch das geschlossene Zugfenster.

Das Buch auf dem Tisch vor mir sagt, Gott sei die Liebe und wer in der Liebe bliebe, bliebe in Gott, und Gott bliebe in ihm. Liebe ist gut, das unterschreibt jeder, will jeder haben. Das ist ein Bestseller, was man von Gott selbst nicht unbedingt behaupten kann, solange er nicht individuell angepasst, portioniert, ansprechend verpackt und entsprechend verschnitten daher kommt. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, sagte er und ich frage mich, wo es denn dann sein soll. Es muss wohl außerhalb der Grenzen dieses Universums liegen. Also gibt es mindestens zwei.

Mir kommt in den Sinn, dass ich von den elf Dimensionen um mich herum auch nur drei erfassen und die vierte in Sekundenscheibchen erleben kann. Scheibchen - eigentlich ist so gut wie nichts von Nichts mit einer hauchdünnen Salamischeibe nur unzureichend beschrieben. Also doch nur eines, und dazu auch noch reichlich unerforscht? Ob Harald Lesch mir zustimmen oder mich zumindest auf ein Glas Rotwein einladen würde wie seinen Philosophenkumpel?

Der Himmel hat keine Löcher, nur Sterne - ein seifenblasiges Gefühl. Und wo ist die Liebe?


Das kugelige Ufo auf dem Tisch vor mir ist randvoll mit Wasser. Sein glubschäugiger Pilot bemüht sich vergeblich, mit mir Kontakt aufzunehmen:

O = O = O

 Der faltenfreie Catsuit schimmert golden.

Was will der von mir?

Jetzt fängt er auch noch das Sprechen an, will philosophieren - er könne nicht erkennen, dass ich mich wie er in einer gläsernen Kugel befände, ringsum nur durch 3mm dickes Glas von einer fremden, lebensbedrohlichen Umwelt abgeschirmt.

Woher will der denn das so genau wissen? Spring doch, sage ich - und schäme mich dafür. Setze ihm auseinander, dass es mir nicht besser geht, dass mein Tastsinn nicht besonders ausgeprägt ist, mein Geruchssinn dem jedes dahergelaufenen Straßenköters hoffnungslos unterlegen und ich weniger höre als eine stinknormale Katze. Dazu tauche ich mein Gesicht bis zu den Ohren in sein Raumschiff und eröffne ihm blubbernd, dass ich nachts beim Blick in den Sternenhimmel nicht die Unendlichkeit sehe, sondern nur bis an die Grenze meines irdischen Erkennens. Und das mache mir Angst:

Gefangen in der Unvollkommenheit meiner Sinne. Rundum geschlossen. Rundum geschlossene Gesellschaft. Rundum geschlossene Anstalt. Wenn das mal kein Goldfischglas ist.

Er scheint beleidigt und beschränkt sich wieder auf: O = O = O. Schwiege Harald Lesch jetzt auch? Vielleicht würde er jetzt sein Gesicht in das große Weinglas stecken und den Kopf in den Nacken werfen.


Der Himmel hat keine Löcher, nur Sterne - ein seifenblasiges Gefühl. Und wo nur ist die Liebe?

Die Kinder im Bus vor mir pressen ihre kalkweißen Gesichter an der Heckscheibe platt und schneiden Grimassen. Wie Bungee-Jumping ist das. Der Goldfisch würde das nicht machen. Goldfische sind demnach klüger als Kinder. Oder ihre intellektuellen Fähigkeiten erschöpfen sich darin, Grenzen hinzunehmen, oder sich zumindest nicht sinnlos die Gesichter daran platt zu drücken. Was für ein Glück. Für die Schulkinder vor mir, doch bin ich im Zweifel, ob sie später nicht doch zu Goldfischen werden, die kugelige Einer-Ufos bevölkern und hin und wieder ein Gurkenglas.

Mitten in der Nacht Alpha-Centauri. Harald Lesch sitzt auf meiner Bettkante und lockt, wir könnten doch unsere Gesichter an der dunkelblauen Heckscheibe über uns platt drücken. Spricht von Reisen mit Lichtgeschwindigkeit und warum die Dinge so sind wie sie sind, dass sie so sind, weil sie so sein können. Nur so. Und dass das kein Zufall ist, lediglich die logische Abfolge der Lage der Dinge nach dem Urknall.
Patsch! Diese Bungee-Heckscheibe kam schneller als erwartet.

Mein Himmel hat keine Löcher, nur Sterne - ein seifenblasiges Gefühl. Wie fühlt sich die Liebe an?

Alpha-Centauri löst sich unter Sphärenklängen in die Quantenwolke auf, als die es in meinen Fernseher fand und von dort in mein Erkennen. Selbst mein Erinnern besteht aus Quanten. Glaskugeln überall. Die Menschen pflanzen sie auf Besenstielen in ihre Gärten, hängen sie im Dezember an geschlachtete Bäumchen und würden gerne ihre kleinen Welten in kleine, sterile Glaskugeln einschließen, solange Welt und Kugel noch heil sind.

Der Bus vor mir bremst und die verdichteten Quantenwolken, die ich als Kinder ausgemacht hatte, wirbeln von der Heckscheibe weg in die Polster der verdichteten Energie in der Tiefe des Busses.


Harald Lesch grinst. In einem Hörsaal irgendwo da draußen.


An Gleis 17 küssen sich zwei zum Abschied durch das geschlossene Zugfenster.


Genau so! Genau so ist es. Mit der Liebe und mit Menschen in Goldfischgläsern.

Mein Himmel hat keine Löcher, nur Sterne – und deiner? Ein seifenblasiges Gefühl, aber ein Gefühl zumindest und die hauchdünne Haut unserer Hülle schillert. Mir ist, als ob sich von irgendwoher ein Finger auf den Weg macht, um mich zu berühren. Wird wohl die Liebe sein. Hoffentlich.

Ludwig Janssen © 21.12.2006
“Uraufführung“: Regensburger Super-Slam 9.3.2007

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