Montag, 14. März 2011

Ratur Lite und der Mann und die Kuh und das Gewitter (Machs gut, Ratur Lite!)

Ratur Lite hatte sich also auf den Weg gemacht. Der Tag, den er sich dazu ausgesucht hatte, hätte schöner nicht sein können: Die Sonne lächelte, die Vögel sangen und nicht ein einziges Wölkchen am Himmel zu sehen.

So kam Ratur gut voran und lief nach … hm, wohin, das wissen wir ja nicht. Nur, dass er das Glück suchen wollte. Gegen Abend erreichte Ratur Lite eine Weide. Auf der Weide stand eine Kuh. Eine schwarzbunte Kuh wars, ziemlich dick, gemütlich und mit Hörnern. Kuhhörner. Sieht man ziemlich selten, Kühe mit Hörnern, dabei würde jede Kuh zwei schicke Hörner tragen, wenn man sie ihr als Kalb nicht schon weggemacht hätte. Die schwarzbunte Kuh mit Hörnern also stand dort auf der Weide und guckte. Fraß ab und zu ein Maulvoll Gras, kaute und guckte, guckte, kaute und fraß ein Maulvoll Gras.

„Na, du Kuh?“, rief der Herr Lite.

Die Kuh guckte.

„Hm?“

Die Kuh schluckte.

Der Kuh gegenüber saß ein Mann auf einem Klappstuhl. Er sah wichtig aus. Mit Hut. Schwarzer Hut. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und auf seinen Bauch gelegt, der das weiße Feinripp-Unterhemd des vielleicht wichtigen Mannes mit Hut zu einer Kugel spannte. An der Rückenlehne des Klappstuhls hing ein schwarzer Regenschirm. Der Mann saß da und guckte, guckte die Kuh an, biss von einem Butterbrot ab, kaute und schluckte, guckte der Kuh geradewegs ins Gesicht und biss und kaute, schluckte und schaute.

„Na, du Mann?“, rief Herr Lite.

Der Mann guckte die Kuh an. Die Kuh guckte zurück.

„Hm?“

Die Kuh schluckte, der Mann schluckte, die Kuh nahm ein Maulvoll Gras, der Mann biss von seinem Butterbrot ab, die Kuh kaute, der Mann kaute …

… und Ratur Lite stand am Zaun und schaute zu.

„Du?“

Nichts.

„Du, Mann da?“

„Ja, was ist?“

„Was machst du da?“

„Sieht man das nicht?“

„Doch, schon, aber …“

„Na, also.“

Ratur kratzte sich am Kopf und überlegte. Ob er vielleicht zu unhöflich war? Hätte er anders fragen sollen? Vielleicht störte er die beiden ja auch bei einer äußerst wichtigen Angelegenheit. Schließlich trug der Mann einen schwarzen Hut, dem man ansah, dass er eine Stange Geld gekostet haben musste. Außerdem sieht man nicht alle Tage einen Mann auf einem Klappstuhl einer Kuh gegenübersitzen und sie anschauen und sonst nichts tun. Ratur beschloss, einfach abzuwarten und zu schauen, was passiert. Er lehnte sich an einen eichenen Zaunpfahl und schob seinen Wanderhut in den Nacken.

Ratur Lite stand am Zaun und guckte. Kratzte sich am Kopf, guckte, schluckte und guckte, guckte und kratzte sich am Kopf und schaute weiter auf die Weide. Die schwarzbunte Kuh mit Hörnern stand dort auf der Weide und guckte. Fraß ab und zu ein Maulvoll Gras, kaute und guckte, guckte, kaute und fraß ein Maulvoll Gras. Der Mann mit schwarzem Hut im weißen Feinripp-Unterhemd saß da und guckte, guckte die Kuh an, biss von einem Butterbrot ab, kaute und schluckte, guckte der Kuh geradewegs ins Gesicht und biss und kaute, schluckte und schaute.

Ganz schön langweilig, hm?

Das dachte jedenfalls Ratur Lite. Er wusste halt nicht, dass das in dieser Geschichte genau so sein sollte und nicht anders. Und weil Ratur das nicht besser wusste, und weil außerdem ein Gewitter aufzog, der Himmel schwarz von Wolken wurde und es sicherlich bald zu regnen begann, fragte er noch einmal:

„Sie?“

Nichts. Obwohl Herr Lite jetzt höflich gefragt hatte.

„Sie, mein Herr mit Hut, ja?“

„WAS?“

Der Herr mit Hut schien sich gestört zu fühlen.

„Was machen Sie da?“

„Sieht man das nicht?“

„Ein Gewitter ist im Anzug!“
Ratur Lite fragte sich, ob er noch lange auf Antwort warten sollte. Er hatte keine Lust, sich nassregnen zu lassen. Wind kam auf, erste Tropfen tupften aufs Gras, auf die Kuh, auf den Hut des Mannes, auf Ratur Lites Kopf. Die Kuh stand und guckte, der Mann saß und guckte, Ratur stand am Zaun und rief noch einmal:

„Ein Gewitter ist im Anzug!“

„Wurde auch Zeit!“
Der Mann griff hinter sich, holte den Regenschirm vor, spannte ihn auf und hielt ihn über sich.

„Was wurde Zeit?“
Ratur spürte, dass es jetzt spannend werden könnte.

„Dass das Gewitter kommt!“
Die Stimme des Mannes mit Hut zitterte ein wenig vor Aufregung.
“Den ganzen Tag schon warte ich auf dieses Gewitter!“

„Wozu?“

„Dass ich endlich sehe, wie eine Kuh guckt, wenn’s blitzt!“

„Wie eine Kuh guckt, wenn’s donnert!“
Ratur erinnerte sich nur vage an die Redensart.

„Nein, wenn’s blitzt!“
Nicht einen Augenblick wandte der Mann seinen Blick von der Kuh ab.

Der Kuh schien das Gewitter nichts auszumachen, selbst, als der Regen jetzt heftiger wurde. Sie stand da und guckte den Mann an, der Mann saß da und guckte die Kuh an, Ratur Lite stand am Zaun und schaute die beiden an, einmal die Kuh, dann wieder den Mann.

Blitze zuckten in der Ferne, kamen näher, das Donnern rollte vom Horizont her zu den drei Gestalten auf der Kuhweide.

„Ja, stimmt, das ist sicherlich interessant!“, versuchte Ratur Lite das Prasseln der Tropfen zu übertönen, doch der Regen schluckte jeden Laut. Ratur starrte auf die Weide, um nichts von der Szene zu verpassen, denn das Gewitter hatte die Weide erreicht.

Er sah, wie die Kuh sich an die Brust griff und ein schwarz-weißes Etui hervorzog, aus dem sie eine Sonnenbrille zog und aufsetzte.

Er sah, wie der Blitz einschlug, direkt in die Spitze des Regenschirms des Mannes mit Hut und Feinripp-Unterhemd.

Er sah das grelle Gleißen des Lichts.

Er sah, wie der Blitz den Mann in eine Bratwurst mit Hut verwandelte.

Er sah, dass die Kuh grinste.

Während es donnerte, sah Ratur Lite, wie die Kuh sich die Sonnenbrille von der Nase nahm, sie zusammenklappte, ins Etui steckte und wie sie sich das Etui zurück ins Fell schob. Dabei blinzelte sie ein wenig.

Das wars.

Ratur Lite tippte an seinen klatschnassen Hut:
„Machs gut, Kuh!“, rief Herr Lite. „Adieu!“

Die Kuh guckte.

Nahm ein Maulvoll Gras, kaute und guckte, guckte, kaute und fraß ein Maulvoll Gras.
„Machs gut, Ratur Lite!“

Doch das hörte Ratur Lite nicht mehr, denn er war weitergegangen und folgte seinem Weg auf der Suche nach dem Glück.



Ludwig Janssen © 28.2.2010

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