Samstag, 3. Oktober 2009

Literatur und Vögel als Gefäß für Menschenseele

Straßentauben – in der Matrix Stadt um den Analyten Mensch werden dessen einstige Nutztiere heutzutage in einen völlig neuen Kontext gestellt – das Schmuckstück, die preiswerte Mahlzeit, der Bote, das Rennpferd des kleinen Mannes wird hier zum Lästling, dem man, anders als Touristen und sonstigen Caféhausbesuchern, jegliche Nahrungsaufnahme, alles Verweilen zu vermiesen trachtet. Mit ziemlicher Sicherheit liegt das darin begründet, dass die Tauben, anders als im ländlichen Raum, nicht zur Gewinn bringenden Kundschaft gehören und daher nicht als Nutzvieh gelten.

Das profane Geschwätz der Straße, Amtsstuben und Stammtische Deutschlands ächtet die Taube als Ratte der Lüfte, Überträger von Krankheiten und Beschmutzer des Kulturerbes.

Man versucht, den Stadttauben den Aufenthalt in der Stadt zu verleiden. Ohne Erfolg, und das zu unserem Glück, denn es sind Tauben, die der Matrix Stadt einen Erlebniswert verleihen, den kein Bauwerk in seiner Geschichtsträchtigkeit oder durch architektonische Besonderung stiften, kein Schaufenster ausleuchten, keine Skulptur subtiler und eindringlich zugleich ausdrücken kann:

Bewegung. Diagonale. Klangraum.

Tauben sinds, die unser Auge von Asphaltdecken, von Pflastersteinen hochreißen ins Lichte des Himmels oder dessen Schwere. Der Schlag ihrer Flügel wirbelt dem Ohr hell klingende Flugschneisen, klatscht für Sekunden Klangräume in die Gassen der Altstädte, hinauf, weitet Häuserschluchten und öffnet Hinterhöfe.

Im Grau der Stadt und dessen geschäftigem Treiben, das dem Äußeren seiner Protagonisten Unbeflecktheit voraussetzt, sind die erdwärts gerichteten Diagonalen der Tauben, die Parabeln ihrer Hinterlassenschaft ein Gräuel: Ein Taubenschiss setzt das Narrenkrönchen auf die Kappe des Prinzen, ist Schicksalsschlag aufs Schulterpolster des Streifenanzugs, ist der Klacks Chaos-Edelweiß, den keine Stadtguerilla auf der Schulterklappe leiden mag.

In der Stadt steht die Taube für das Unverhoffte von oben, ist ein Stück Himmel zu Füßen oder auf den Kopf. Gibt den einen auf der Fensterbank den Engel in der Stadt oder den anderen den bösen Blick in Orange.

Und doch bricht sie, die ewige Columbine, ihren Arlecchini für wenige Herz- und Flügelschläge lang die Prosa Stadt zu Lyrik.

Benjamin Stein erdet über sie von der Mystik der Kabbala in unsere Städte hinein. Er breitet von dem Wissen einer anderen Kultur als der unseren aus, einer Kultur, der wir uns mit Gewalt entfremdeten, und dass dem Zohar nach dieser Vogel ein Gefäß ist, welches die Seele eines Gerechten aufnimmt, die dann im Körper der Taube auf ihre Wiedergeburt in einem anderen Menschen wartet.

Was also ist, da die Wahrheit der Taube sich aus dem Blick des Betrachters heraus offenbart, die Wahrheit über Tauben?

Wenn also dieser Vogel Gefäß für Menschenseele sein kann, wer schreibt die hinein, schreibt den Vogel zum Gefäß und öffnet den Menschen ein Auge darauf, wie Dinge, die offensichtlich so sind wie sie sind, sein können - über das Offenbare hinaus? Was fügt alltäglich gebrauchsfertige Wörter wie Taube, Seele, Mensch, Gefäß zu Schreiben, das neue oder unbekannte Welten auftut? Was ist das, das die alltäglichen Bausteinchen unserer Kommunikation neu fügt und Dinge entstehen lässt?

Oder sie unserem Erkennen offenbart. Vertraute Dinge, die anders zu sein scheinen, nur weil man sie aus der Perspektive einer anderen Kultur und den aus der eigenen heraus abgeleiteten Wesenszwängen der Dinge heraus betrachtet.

Dabei sind die Dinge und jede Sichtweise darauf Facetten einer Wahrheit, die nie wieder als ursprüngliche erkannt werden wird, da sie geschliffen wurde, Wahrheit, der wir Werte zumessen glauben zu können.

Solch Ding aus Wort neu entstehen lassen zu können ist Literatur und findet in jedem Leser, Kritiker wieder jemanden, der schleift, der nimmt, der formt.

Dabei ist das Ungeschliffene wahrer als jedes Produkt. Wert, nicht eigentlich aus der Kultivierung des Ungeschliffenen erschaffen, sondern aus dessen Aufwertung durch Kultur Schaffende (Kulturschaffende ist ein Wort für die geringeren Kalibers), ist eine neue, undurchdringlichere, verbergende Kruste, als dass Hülle sein konnte, was einem Rohling durch Schliff genommen wird.

Das ist der Grund dafür, dass über Literatur gestritten wird - als ob man darüber streiten könnte.

Über Literatur, über Tauben und auch darüber, dass diese beiden der Seele des Menschen Gefäß sein können.

Ludwig Janssen © 1.10.2009

externer Link zum Blog "Turmsegler" von Benjamin Stein und seinem Beitrag "Tauben“

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