Montag, 31. August 2009

Poetik der Thunfischkonserve

Vor mir eine Dose, Thunfisch, natur – ohne Öl. Es handelt sich um eine in sich geschlossene Angelegenheit, ja, „hermetisch“ wäre ein denkbares Attribut für diesen Zylinder, runde Sache aus zwei Perspektiven, und, wäre da nicht mein räumliches Vorstellungsvermögen, aus vier weiteren Perspektiven nicht mehr als ein immer gleich großes Rechteck. Die Sicht der Dinge ist oft nicht mehr als der Ausdruck ihrer eigenen Unvollständigkeit.

Zweihundertfünfundzwanzig Gramm Gewicht. Ob das dem Gehalt entspricht? Entsprechen Gehalt und Inhalt einander, bedingen sie einander? Kann, könnte ich sie trennen? Ja, kann ich das überhaupt auseinander halten? Oder lasse ich mich täuschen, denke, dass alles einfach, klar und deutlich sei, weil es sich offensichtlich um eine Dose Thunfisch handelt?
Was lässt mich auf „Thunfisch, natur – ohne Öl“ schließen? Nicht mehr als die dünne Banderole um die Wand des Zylinders, Papier, bunt, mit zusätzlichen Informationen zum Inhalt der Dose. Beiwerk? Ausschmückung? Äußerlichkeit?

„… Thunfisch Stücke in eigenem Saft und Aufguss …“
Aha.
„Zutaten: Thunfisch, Wasser, Speisesalz …“
Oh. Das also sind Worte, - Stellvertreter? Erklären oder erläutern sie?
„… Füllmenge 185g …“
So viel ist also darin.
„… Abtropfgewicht 140 g …“
Was nun? Soll ich hier in Teilen denken? Gibt es hier Teile, die weniger wichtig sind?
Klar ist mir, dass von den zweihundertfünfundzwanzig Gramm Gewichtigkeit der Dose nicht viel bleibt, wenn ich vom Ganzen ins Detail gehe.
Ah! Ich sehe auf der Banderole „GUT & GÜNSTIG“, in Majuskeln farblich abgesetzt – es scheint sich um ein gestalterisches Element zu handeln, womöglich um ein Markenzeichen. Markenzeichen, sind das nicht Symbole, mit denen manche meinen, alle ihre Produkte ausstaffieren zu müssen, damit sich jede der von ihnen fabrizierten Dosen in gleicher Weise von den Dosen anderer Konserven-Fabrikapritapezierer/innen unterscheidet?. Dann ein kleines Symbol – ein Delfin ist darauf zu sehen und, ebenfalls in Majuskeln, der Schriftzug „SAFE“ – ist das ebenfalls ein Markenzeichen? Ist das wichtig? Entscheidet dieses Symbol darüber, wie ich den Inhalt annehme? Sicherlich wurde es mit Bedacht gewählt, platziert, transportiert ein wenig von dem Unwägbaren, das dieser Konserve innewohnt wie der Thunfisch. Wirklich?

Der Thunfisch. Eigentlich ist nur ein winziger Teil eines riesigen Fisches in dieser Dose. Ein Teil, ein Fisch – denn ich weiß nicht, um welches Teil es sich handelt, man – und damit meine ich den Autor dieser Konserve, den Autor der Banderole, den Autor des Signets „SAFE“, den Autor der Konservenfabrik, auch den des Ozeanriesen, mit dem diese Dose und ihr Inhalt nach Deutschland kamen - lässt mich im Unklaren, um welches Stück es sich handelt, um welchen Fisch.
Abstraktion? Minimalismus? Ist nicht wesentlich entscheidender, dass der Fisch tot ist, dessen Teilstück der Leser in diese Dose eingeschlossen wähnt? Gehört auch das zum gestalterischen Element des Verfassers? Was wurde aus dem übrigen Fisch?
„… PRODUCT OF THAILAND …“
So weit der Weg, den dieses Stück Fisch, womöglich schon eingeschlossen in diese Dose, zu mir nahm? Von so weit her fandest du deinen Weg zu mir, armer, bedauernswerter und schon längst verstorbener Riesenfisch im Blechsarg.
Schwammst, vielleicht nicht lustig und vergnügt, aber gefräßig und geschäftig durch den Pazifik, auf der Suche nach Nahrung, vielleicht sogar auf der Suche nach dem Sinn des Lebens – ich projiziere das, halt bitte still, oh, Entschuldigung, so hatte ich das nicht gemeint, ach, kannst mich ja nicht verstehen, deine Ohren sind ja nicht in dieser … Entschuldigung, hast ja keine, aber, hättest du welche, wären die bestimmt nicht hier, verstehst du, hier! Hier? Kein Mucks, in der Dose bleibt es still.
In der Dose Stille. Nie werde ich dort Urlaub machen können, wo deine letzte Inkarnation entbeint, entgrätet, entleert, entzweit, in Dosen abgefüllt wurde, in
„… THAILAND N0. 2065 …“,
wo’s wahrscheinlich nach totem Fisch riechen und nicht sehr gemütlich sein wird, weder für deines- noch meinesgleichen, toter Riesenfisch, dessen zufälliges Stückchen hundertvierzig Gramm Abtropfgewicht hier in dieser Dose vor mir glückert, wenn ich die schüttle. Oder im Pazifik. Da werde ich auch nicht sein.
Aber du warst dort, Riesenfisch (hattest du zufällig einen Namen, vielleicht „Fritz“ oder einen etwas pädagogisch wertvollen wie „Regenbogenfisch“?), ja, du warst dort, mitten im Pazifik, tiefer, als je eines meiner Gedichte gelangen wird (solange nicht irgendwer mit einer Fähre untergeht und vor dem Ableben eines meiner Gedichte rezitiert), warst Fisch, ganz Fisch – und wesentlich lebendiger, aussagekräftiger, schwimm- und tiefgangbegnadeter als diese Konserve hier vor mir mit der Thunfischreliquie darin, „… Mindestens haltbar bis: 31.12.2010 …“.
Hallo, Thunfisch, hörst du mich? Null! Die Waage zeigte „0“ an, als ich die Banderole um dein Teilbestattungsbehältnis entfernte und es somit zu der mattgrauen Blechdose machte, die jetzt vor sich hin schweigt, deren Inhalt sich durch leises Glückern mitteilt, wenn man die Dose schüttelt.

„Null“ – das ganze blau-rot-weiße Brimborium drumherum ist zu leicht, um meine digitale Küchenwaage dazu zu bewegen, etwas anderes anzuzeigen als „0“. Und weißt du was? Redundanz! „Thunfisch“ ist redundant, „Gut & Günstig“ ist es, „natur – ohne Öl“ ist ebenso redundant wie das Logo mit dem Delfin und SAFE - ja, da wollte wohl jemand „auf Nummer sicher gehen“, traute dem Leser nicht zu … ja, was eigentlich? Ob das vielleicht Stilelement ist? Die Andeutung einer Alliteration?


Auf dem Boden der Dose der Aufdruck:

MI 23KCW
H3TAD

Auch das sagt nicht viel aus, findet sich der gleiche Aufdruck doch auch auf den anderen Dosen im Regal.
Diese Dose hier vor mir – ohne das Null-Gramm-Banderolen-Tara ist sie kryptische Verdichtung, Umdichtung und Metapher. So viel Blech. So viel Blech um toten Fisch, und würde ich ihn, sie, (dich, mein Freund Riesenfisch - wir hätten Freunde werden können, hätte ich nie die vielen Pizzi Tonno gegessen, nicht wahr?) jetzt so, wie sie ist, in einem Literaturforum veröffentlichen, würde man nicht einmal wissen, dass sich innerhalb des Blechs Fisch befindet, Thunfisch.

So viel Blech um dich, Riesenfisch, um dieses Teil von dir jedenfalls und die vielen anderen, Teil der gigantischen Inszenierung einer verzögerten Bestattung – von Hagens würde vor Neid erblassen, würde er gewahr, dass hier eine Riesennummer abgeht. Gehören Thunfischstückchen der anderen Dosen im Regal zu dir? Das weiß niemand. Niemand! Ist vielleicht ein Teil von dir, der Inszenierung deiner Bestattung schon gegessen, verdaut, fern? Ist Rohrpost? Auf dem Weg durch irgendeine Kläranlage Ostdeutschlands oder in einem nordamerikanischen Fluss, duftet gar, auf einer südeuropäischen Spezialität mit den Hinterlassenschaften von Tieren vereint, denen du im Leben nie begegnet wärest, zwischen Gemüse und Käse einem westafrikanischen Geschäftsmann lecker, lecker vom Teller entgegen?

Wer weiß. Weißblech. Vor mir: eine mattgraue Blechdose. Abgeschlossen. Das schien ihrem Autor wichtig zu sein. Dass das Werk eine in sich und für sich abgeschlossene Angelegenheit ist. Schüttelt man die Dose, glückert es darin. Darauf muss man erst einmal kommen. Ich bin sicher, dass ich, wenn ich auf das ganze Blech hinweise, das diese geschlossene Angelegenheit zusammenzuhalten scheint und mit vierzig Gramm siebzehnkommasiebenacht Prozent der Gewichtigkeit dieses Werks ausmacht, auf Unverständnis und Unmut stoßen werde. Metapher. Die Dose vor mir ist Metapher, ist Allegorie.

Die Poetik der Thunfischkonserve ist Poesie ...

Ludwig Janssen © 21.8.2008

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