Freitag, 12. Juli 2019

Lisbeth und der alte Mann vom Meer

Lisbeth rieb sich den Schlaf aus den Augen. War das was? Sie meinte, vom Garten her ein Geräusch vernommen zu haben. Das schabende Quietschen rostiger Kettenglieder, die aneinander reiben. Lisbeth hüpfte aus dem Bett und lief auf bloßen Füßen zum Fenster. Draußen war es kühl. Gerade so, wie es sich für einen Frühlingsmorgen geziemt, und die Fensterscheiben waren beschlagen, von außen. Lisbeth strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und versuchte behutsam, das Fenster so leise wie möglich zu öffnen. Der Rahmen war im Fensterstock etwas aufgequollen von der Feuchtigkeit. Und so folgte der Fensterflügel nur widerstrebend und auf einen kleinen Ruck hin. Das Glas der Fensterscheiben erbebte. Leises Scheppern.
Kühle, feuchte Morgenluft strömte ins Zimmer, umfloss das zierliche Persönchen darin, dass sich die Härchen auf den Armen des Mädchens aufstellten. Irgendwo hinter der Ligusterhecke tschilpte eine Schar Spatzen. Doch von der Sternrenette her kam das Geräusch, dem Lisbeths Neugier galt. Dort hing die alte Schaukel, die der Großvater schon ihrer Mutter, als die noch ein Kind war, am stärksten Ast des Baumes angebracht hatte. Und auf der Schaukel, wieder rieb Lisbeth sich die Augen, war die graue Gestalt eines alten Mannes mit Hut zu erkennen, der dort saß und ein wenig hin und her schaukelte.
Rasch schlüpfte Lisbeth in ihre Gummistiefel, warf sich eine rote Weste über das geblümte Nachthemd und eilte in den Garten.
"Hallo?"
Der Mann hob den Kopf.
"Was machst du da?"
Ein müdes, aber freundliches Lächeln war die einzige Antwort.
"Wer bist du?"
Das Lächeln, wieder. Blass wirkte er, der Alte auf der Schaukel, und wer genauer hingeschaut hätte, hätte seine Haut, sein Gesicht in bläulichen Schimmer gehüllt gesehen.
"Kalt ist's! Ist dir kalt, alter Mann?"
"Mhm, schon. Ein wenig."
Lisbeth war nun näher an den Mann herangetreten, der so freundlich und doch so traurig wirkte und griff nach seiner Hand. Auch die fühlte sich kühl an, kühl und frisch wie die Morgenluft, die Lisbeth frösteln machte.
"Oh, was hast du kalte Hände! Komm, komm mit in die Küche und ich mach dir einen heißen Kakao. Und dann erzählst du mir deine Geschichte und wie du hier in den Garten auf Mutters Schaukel kamst, ja?"
"Mhm, ja, gut."
"Du bist ja ganz nass! Komm", zog Lisbeth den alten Mann hinter sich her ins Haus: "Du wirst staunen, wie gut so eine große Tasse heißen, süßen Kakaos tut."

Er duftet wie Ferien an der Nordsee, dachte Lisbeth bei sich.

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