Montag, 1. Mai 2017

Ich schreibe Briefe aus dem Niemandsland



Weißt du noch?

"So wie jetzt schreibst du nie wieder ..."

Ich erinnere mich, dass meine Schwägerin das zu mir sagte, ich war siebzehn und schlug mir regelmäßig beim großen Bruder den Magen voll, badete und wusch meine Wäsche, dünn war ich, dünn, verträumt und ahnungslos.

Dass ich "das" unbedingt aufheben solle, meinte sie, denn so würde ich nie wieder schreiben. Den Klang ihrer Stimme habe ich noch in den Ohren, es ist dieselbe, die jetzt am Telefon hunderte von Kilometern weiter westlich nach dem Bruder ruft oder mir zuvor sagte, dass es ein großer Vertrauensbeweis sei, wenn man mich "so aus der Lamäng" verließe. Doch damals meinte sie, dass ich nie mehr so denken und schreiben würde wie mit siebzehn.

Siebzehn! Mein Gott, ich war auch einmal siebzehn, ein ganzes Jahr lang, und dieses Jahr war ein sehr langes Jahr - ich schrappte sooo dicht am H vorbei, in dem ich einige meiner Freunde zurücklassen würde, bevor ich nicht mehr siebzehn wäre, das wusste ich da noch nicht. Ich schrieb, sah die Welt an, die Welt sah mich an, ich schrieb.

"Haben Sie so etwas öfter?", fragte Frau Stamm, meine Frau Stamm, die Frau Stamm, die erste Lehrerin, der ich Gedichte von mir zeigte - sie hatte mein Vertrauen, weil sie Gegensätzliches gelten ließ und meine Aufsätze waren das immer, verglichen mit denen der Klassenbesten, das Gegenteil. Aber gut, eigen, und "Tugend ist, wenn keiner kommt" - Frau Stamm - wie sonderbar prüfend und warmherzig zugleich schaute sie das fremde Mädchen an, das ich mitbrachte. Ins Theater, man gab Ibsens Wildente. Ob die von mir ob ihres Sinns für die Jugend im Stillen verehrte Dame mit immer lebendigen braunen Augen nun, im Foyer während der Pause, die klassische Schönheit, die feingeschnittenen Züge meines Mädchens mit dem Gedicht von mir abglich, das sie gelesen hatte? Frau Stamm, Hand aufs Herz, die Kleine habe ich nach der Vorführung in die U-Bahn gesetzt und nie wieder gesehen, kannte sie kaum, aber ich hatte doch die zweite Karte, und ... :)

Ich hob in der Tat nur wenig auf aus dieser Zeit, vieles ging verloren, was andere als ich wegwarfen, als sie mich loswerden wollten. Nichts wirklich Wichtiges ging in die Brüche, damals nicht, gestern nicht und morgen wirds nicht anders sein. Der Krug am Brunnen ist nur ein Gefäß, Wasser trinkt man, trägt es nicht in der Gegend umher.

Da gebe ich einem jungen Menschen mal diesen Ratschlag meiner Schwägerin weiter, denn er ist klug. Bewahre, was du mit siebzehn schreibst. Ich habe einmal Sachen verglichen, die ich mit 24 schrieb, die strahlen eigentlich dieselbe Geisteshaltung aus wie die, die ich zum Zeitpunkt des Lesens hatte, so um die Vierzig war ich da, und selbst, wenn ich als Neunundvierzigjähriger anders in die Welt schaue als mit siebzehn, ist noch derselbe Mensch in mir. Derselbe Träumer, Spinner, der Weiche, Verletzliche, der Verlierer, nur eben noch einen Tick nachdenklicher und daher langsam, noch "sehender" und dadurch mit Skrupeln und (immer wieder mehr) zaudernd in der Sache wie entschlossen zugleich, wenn es gilt, etwas abzuschließen. Wie soll man sich auch wehren, wenn man Kinder durch die Welt zu tragen hat - und wessen oder wem soll man wehren, wenn die nicht mehr sind?

Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich als Jugendlicher an der Welt blutig stieß, die mich in Frage stellte, was sie heute auch noch macht, nur eben anders, kälter und derart berechnend, dass ich keine Lust auf sie habe. Ping, pang, pung - auf die Welt, wie die mit den Taschenrechnern sie sich ausdenken und mir vorhalten: die überzogene Rechnung für Handaufhalten und Erniedrigungen, die ich nie bestellte, sondern nur ertrug.

Denke ich mir halt eine eigene Welt aus.
So wie du.
Und schreibe aus dem Niemandsland.
So wie du.
Briefe.
Eigentlich sind die für mich. Ich lasse nur mitlesen.
So wie du.

Jetzt ist es schon ein Brief, nicht wahr? Komm, lies und stelle dir vor, dass ich ihn an dich schrieb, weil ich dir nichts Gescheiteres sagen konnte, als von mir zu erzählen, und daher vom Gefühl schrieb, mit dem ich aus deinem Text wieder herauskam.

Ich war unterwegs mit einer jungen Frau, streifte durch nächtliche Gärten, schaute ihr zu und atmete ein, atmete aus, ein "alter Mann" wird so wieder jung, siebzehn, läuft durchs nächtliche Bonn, bringt seine Begleitung zur U-Bahn und trollt sich dann Richtung Endenich, die Poppelsdorfer Allee hinunter, schmeckt die Nacht, würde gerne wieder siebzehn sein und der Deutschlehrerin erklären, dass er jetzt viel lieber mit ihr bei einem starken Kaffee sitzen und übers Theater, über Gedichte reden würde. Jetzt, zweiunddreißig Jahre später, fällt mir das ein.

Auch diesen Brief hier schicke ich ins Niemandsland - wer weiß, wer ihn liest ...
Vielleicht wird noch ein gescheiter Text daraus, den Anfang habe ich schon ein paar Tage im Kopf.
Schenk uns ein Lächeln! Danke.


Ludwig Janssen © 19.8.2008 (21.03.2008)

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