Gestern Abend verstellte mir die Frau aus der
Lottoannahmestelle den Weg und drückte ihn mir wortlos in die Hand. Ich merkte
gleich, dass ihr die Trennung schwer fiel. Sie mochte ihn, ihr standen die
Tränen in den Augen.
Tröstend legte ich meine freie Hand auf die Schulter der
jungen Frau, da wandte sie sich unter Schluchzen ab und verschwand mit einem
verheulten ‚Gut aufpassen, sonst ist er weg!’ in der Ladentür.
Da stand ich nun, einen Flug in meinen hohlen Händen, und
weil ich so nicht weiter durch die Stadt laufen konnte, ohne mich lästigen
Fragen auszusetzen, machte ich mich auf den Heimweg.
Kannst du dir die Hürden vorstellen, die der Alltag für
jemanden bereithält, der einen Flug in den Händen birgt?
Es begann schon an der Haustüre - der Schlüssel steckte in
der linken Gesäßtasche. Einen Klingelknopf mit der Nase drücken ist kein Ding
der Unmöglichkeit. Wie ich meiner Nachbarin die Störung erklären könne und
warum ich sie nicht nur um den Ersatzschlüssel, sondern auch darum bitten
müsse, mir die Tür aufzuschließen, beschäftigte mich auf dem Gang durchs
Treppenhaus. Sie schaute zwar etwas verwundert auf meine Hände - die Knöchel
zeichneten sich vor Anstrengung schon weiß ab - und mir mitleidig fragend in
die Augen, doch sie stellte keine peinlichen Fragen und tat mir den Gefallen.
Als sie die Tür hinter mir ins Schloss zog, lief ich ins Wohnzimmer und ließ
mich rücklings ins Sofa fallen.
Wie mochte dieser Flug aussehen? Ich drückte mein Auge an
die Stelle zwischen linkem Daumen und Zeigefinger und öffnete vorsichtig ein
Guckloch. Da sah ich ihn im Halbdunkel kauern und mit großen Augen schaute er
mich an: "Lass mich frei!"
„Dann bist du auf und davon, mein Freund …“
„Ich kann dein
Freund nicht sein, wenn du mich zwingst - ist wie mit dem Glück.“, war seine
patzige Antwort.
„So nicht! Schließlich habe ich dich gewonnen und möchte
dich …“
Weiter wusste ich nicht, denn mir fiel nicht ein, wie ich ihm das
erklären sollte. Fliegen wird einem heutzutage ja leicht gemacht. Aber wenn man
dann so einem Flug Aug in Aug gegenüber sitzt, was sagt man ihm dann? Ich will
dich fliegen? Da lacht der mich doch nur aus. Oder – ich will dich machen? Das
hatte ich mir auch vorgenommen, ihm das zu sagen, doch kamen selbst mir
hartgesottenem Worterfinder Zweifel an der Sinnhaftigkeit solchen Redens. Wie
sollte ich etwas machen, das es schon gab und das ich in Händen hielt? ‚Mit
eigenen Händen’ kam mir in den Sinn und ich grinste. Ich war froh, dass mich
niemand so scheinbar unmotiviert grinsen sah.
Eigentlich sei er ein Freiflug, meinte der Knirps und
flatterte in meiner hohlen Hand. Es kitzelte so wie von Schmetterlingen, und
ich fragte mich, ob er sich wohl wie diese gerade verzweifelt die Schuppen von
den Flügeln schlüge und womöglich flugunfähig würde.
„Halt still!“
Aufgeregtes
Flattern.
„Du bringst dich um!“
„Wieso das denn?“
„Was passiert mit einem Flug,
der nicht fliegen kann, der löst sich doch in wohlgefälliges Nichts auf, oder?“
„Der verflüchtigt sich, und ich bin schließlich auf der Flucht“, kam es trotzig
zurück.
„Wenn mich einer umbringt, dann du, denn frei bin ich schon nicht mehr,
und das ist schon die Hälfte meines ursprünglichen Namens!“
„Na, gut, wenn du mir versprichst, nicht zu verduften, lasse
ich dich frei“, war mein Angebot. „Dann bist du ganz“, fügte ich hinzu und
hielt nun mein Ohr ans Guckloch.
Er hielt still. Dachte wohl nach. Worüber wohl? Darüber
wollte ich nun wieder nicht nachdenken, denn mein Großmut reute mich schon. So
ein bisschen. Kleines Zweifelnagen am großen Herzen.
’Okay’ und ein Seufzer. Ich öffnete meine Hände und - Zack!
- schwirrte er an meinem Kopf vorbei zur Deckenlampe, thronte dort zwischen den
blassrosa Tiffanyblüten. Erweckte nicht gleich den Eindruck, dass er sich wohl
fühle. Und doch schauten wir uns lange und tief in die Augen, entspannten und
gewöhnten uns an die Selbstverständlichkeit, einen Flug auf der Deckenlampe und
einen bärtigen Menschen im Sofa unterhalb zu wissen, die beide außerhalb des
Raumes wahrscheinlich für unmöglich gehalten würden. Das verbindet.
Ich bot ihm etwas zu Essen und zu Trinken an, er lehnte
dankend ab und gähnte. Wie konnte ich nur so unaufmerksam sein, sicherlich war
er erschöpft und brauchte seine Ruhe nach all dem Stress. Da er auf der Lampe
schlafen wollte, löschte ich das Licht und legte mich als aufmerksamer
Gastgeber, so dachte ich mir das aus, zum Schlafen aufs Sofa.
Kurz bevor ich einschlief, dachte ich noch: Was macht man
mit einem Flug?
Über Nacht ließ ich einen Mann die Wiese vor meinem Haus
umflügeln, nur um am nächsten Morgen feststellen zu müssen, dass ein
Schmetterling das gründlicher erledigt hätte.
Heute Morgen steht das Fenster auf Kipp und ein freundlicher
Sonntagmorgen lächelt frisch in mein zerknittertes Gesicht. Ich schaffe es
gerade noch zu der Entscheidung, mir mit dem Zurücklächeln Zeit zu lassen und
zum Wasserkocher.
Den Rest kannst du dir denken.
Ludwig Janssen © 8.7.2006
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