Freitag, 8. November 2013

Flugs

Ich habe einen Flug gewonnen!
Gestern Abend verstellte mir die Frau aus der Lottoannahmestelle den Weg und drückte ihn mir wortlos in die Hand. Ich merkte gleich, dass ihr die Trennung schwer fiel. Sie mochte ihn, ihr standen die Tränen in den Augen.
Tröstend legte ich meine freie Hand auf die Schulter der jungen Frau, da wandte sie sich unter Schluchzen ab und verschwand mit einem verheulten ‚Gut aufpassen, sonst ist er weg!’ in der Ladentür.
Da stand ich nun, einen Flug in meinen hohlen Händen, und weil ich so nicht weiter durch die Stadt laufen konnte, ohne mich lästigen Fragen auszusetzen, machte ich mich auf den Heimweg.
Kannst du dir die Hürden vorstellen, die der Alltag für jemanden bereithält, der einen Flug in den Händen birgt?
Es begann schon an der Haustüre - der Schlüssel steckte in der linken Gesäßtasche. Einen Klingelknopf mit der Nase drücken ist kein Ding der Unmöglichkeit. Wie ich meiner Nachbarin die Störung erklären könne und warum ich sie nicht nur um den Ersatzschlüssel, sondern auch darum bitten müsse, mir die Tür aufzuschließen, beschäftigte mich auf dem Gang durchs Treppenhaus. Sie schaute zwar etwas verwundert auf meine Hände - die Knöchel zeichneten sich vor Anstrengung schon weiß ab - und mir mitleidig fragend in die Augen, doch sie stellte keine peinlichen Fragen und tat mir den Gefallen. Als sie die Tür hinter mir ins Schloss zog, lief ich ins Wohnzimmer und ließ mich rücklings ins Sofa fallen.  

Wie mochte dieser Flug aussehen? Ich drückte mein Auge an die Stelle zwischen linkem Daumen und Zeigefinger und öffnete vorsichtig ein Guckloch. Da sah ich ihn im Halbdunkel kauern und mit großen Augen schaute er mich an: "Lass mich frei!" 

„Dann bist du auf und davon, mein Freund …“
„Ich kann dein Freund nicht sein, wenn du mich zwingst - ist wie mit dem Glück.“, war seine patzige Antwort.
„So nicht! Schließlich habe ich dich gewonnen und möchte dich …“
Weiter wusste ich nicht, denn mir fiel nicht ein, wie ich ihm das erklären sollte. Fliegen wird einem heutzutage ja leicht gemacht. Aber wenn man dann so einem Flug Aug in Aug gegenüber sitzt, was sagt man ihm dann? Ich will dich fliegen? Da lacht der mich doch nur aus. Oder – ich will dich machen? Das hatte ich mir auch vorgenommen, ihm das zu sagen, doch kamen selbst mir hartgesottenem Worterfinder Zweifel an der Sinnhaftigkeit solchen Redens. Wie sollte ich etwas machen, das es schon gab und das ich in Händen hielt? ‚Mit eigenen Händen’ kam mir in den Sinn und ich grinste. Ich war froh, dass mich niemand so scheinbar unmotiviert grinsen sah. 

Eigentlich sei er ein Freiflug, meinte der Knirps und flatterte in meiner hohlen Hand. Es kitzelte so wie von Schmetterlingen, und ich fragte mich, ob er sich wohl wie diese gerade verzweifelt die Schuppen von den Flügeln schlüge und womöglich flugunfähig würde.
„Halt still!“
 Aufgeregtes Flattern.
„Du bringst dich um!“
„Wieso das denn?“
„Was passiert mit einem Flug, der nicht fliegen kann, der löst sich doch in wohlgefälliges Nichts auf, oder?“
„Der verflüchtigt sich, und ich bin schließlich auf der Flucht“, kam es trotzig zurück.
„Wenn mich einer umbringt, dann du, denn frei bin ich schon nicht mehr, und das ist schon die Hälfte meines ursprünglichen Namens!“
„Na, gut, wenn du mir versprichst, nicht zu verduften, lasse ich dich frei“, war mein Angebot. „Dann bist du ganz“, fügte ich hinzu und hielt nun mein Ohr ans Guckloch. 

Er hielt still. Dachte wohl nach. Worüber wohl? Darüber wollte ich nun wieder nicht nachdenken, denn mein Großmut reute mich schon. So ein bisschen. Kleines Zweifelnagen am großen Herzen.

’Okay’ und ein Seufzer. Ich öffnete meine Hände und - Zack! - schwirrte er an meinem Kopf vorbei zur Deckenlampe, thronte dort zwischen den blassrosa Tiffanyblüten. Erweckte nicht gleich den Eindruck, dass er sich wohl fühle. Und doch schauten wir uns lange und tief in die Augen, entspannten und gewöhnten uns an die Selbstverständlichkeit, einen Flug auf der Deckenlampe und einen bärtigen Menschen im Sofa unterhalb zu wissen, die beide außerhalb des Raumes wahrscheinlich für unmöglich gehalten würden. Das verbindet. 

Ich bot ihm etwas zu Essen und zu Trinken an, er lehnte dankend ab und gähnte. Wie konnte ich nur so unaufmerksam sein, sicherlich war er erschöpft und brauchte seine Ruhe nach all dem Stress. Da er auf der Lampe schlafen wollte, löschte ich das Licht und legte mich als aufmerksamer Gastgeber, so dachte ich mir das aus, zum Schlafen aufs Sofa. 

Kurz bevor ich einschlief, dachte ich noch: Was macht man mit einem Flug? 

Über Nacht ließ ich einen Mann die Wiese vor meinem Haus umflügeln, nur um am nächsten Morgen feststellen zu müssen, dass ein Schmetterling das gründlicher erledigt hätte. 

Heute Morgen steht das Fenster auf Kipp und ein freundlicher Sonntagmorgen lächelt frisch in mein zerknittertes Gesicht. Ich schaffe es gerade noch zu der Entscheidung, mir mit dem Zurücklächeln Zeit zu lassen und zum Wasserkocher.

Den Rest kannst du dir denken. 

Ludwig Janssen © 8.7.2006

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