Sonntag, 27. Januar 2013

Dompteur (zu Kritikfähigkeit und Clowns)

“Wissen Sie, das Wort hat seine Wurzeln in dem französischen für zähmen”, beugte sich Hrava Oluni Vran Bulosz zu und raunte: “Wesentlich ist, dass Sie eindeutige Zeichen geben, die von Ihrem Gegenüber auch aufgenommen und verstanden werden können.”

Sie waren sich zufällig begegnet, wenn man so etwas wie Zufall als tatsächlich zufällig ansehen mag. Als Bulosz über den Vorplatz von Olunis Zirkus schlenderte, in Gedanken, was wohl wahre Kritikfähigkeit ausmacht.

Dass es sein Zirkus war und er der große Hrava Oluni, wusste Vran da noch nicht, Hrava aber konnte die Falten auf seiner Stirn lesen und deuten, hatte wohl ein wenig Zeit übrig und schien entschlossen, sie an den Nächstbesten zu verschenken. Und der war glücklicherweise er, Vran Bulosz.

“Eindeutige Zeichen. Verständlichkeit.”, wiederholte Vran, immer noch ins Grübeln vertieft und den Blick an den Horizont entlassen, wo er sich mit dem schwächer werdenden Tageslicht verlor.

“Das Können, mein Lieber, aufs Können kommt es an”, schob Hrava die Hände in die Hosentaschen und deutete mit einem Nicken zu einer nahen Bank, auf der die beiden sich niederließen, nachdem Vran sich aus seiner Versenkung hatte lösen können.

“Können? Ich kann!” Vran fuhr sich mit den Händen durchs Haar. “Ich kann mich verständlich machen.”

“Und, können denn die verstehen, denen Sie sich verständlich machen wollen?”

“Ach, so meinen Sie das?”

“Genau so, Herr …”

“Bulosz, Vran Bulosz.”

“Hrava Oluni, angenehm.”

“Oluni, etwa der Hrava Oluni?” Vran Bulosz sah erschrocken auf zu dem Namenszug, der sich in riesigen Lettern über dem Eingang des inzwischen hell erleuchteten Zirkuszeltes wölbte. “Ich …”

“Lassen wir das, Vran, wenn ich Sie so nennen darf?”

“Selbstverständlich, es ist mir eine Ehre!”

“Und ich bin Hrava für dich, Vran.”

“Danke, Hrava!”

“Schau, was nützt dir alles Wissen um Zeichen, Signale und Eindeutigkeit, was nützt dir alles Wissen überhaupt, wenn dein Gegenüber nicht in der Lage ist, zu verstehen?”

“Also macht sich Verständlichkeit nicht an dem fest, was man weiß und wie man es ausdrückt, sondern daran, was das Individuum gegenüber davon zu verstehen in der Lage ist.” Bulosz rieb sich das Kinn.

“Genau! Und es ist essentiell, sich zu vergewissern, wem man sich verständlich machen möchte, Vran!”

“Wenn ich den rechten Arm hebe, die Peitsche darin die Verlängerung meiner Autorität und Kompetenz, weiß der Tiger sofort, dass …”

“Der Tiger, Vran?” Hrava Oluni schmunzelte. “Der Tiger?”

“Woher weißt du …?”

“Schau deine Unterarme an, Vran, die Innenseite … übersät mit kleinen roten Punkten …”

“Wenn sie über mich herfallen, Hrava, ich sage dir, blutrünstige Bestien, einer wie der andere, und wie, und wie!”, Bulosz hob die Arme, als müsse er den Sprung eines Tigers abwehren, ließ sie dann fallen, als sei ihnen jegliche Spannung entwichen.

“Magst du noch, was du tust, Vran? Meinst du, dass du schon alles gelernt hast, was man wissen muss, um sich ihnen verständlich machen zu können?”

“Was? Du selbst meintest soeben, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man weiß, sondern darauf, was der andere davon …”

“Ja, stimmt, aber konkret gefragt: Hast du mit dem, was du kommunizierst, nicht eigentlich schon längst die Grenze zu dem überschritten, was davon wirkliche Verständigung ist - und was lediglich Illusion? Illusion, die du in den Köpfen derer entstehen lässt, die meinen, dich dich mitteilen zu sehen, Illusion, die letztlich dich selbst gefangen nimmt und blendet: Du hast mit ihnen schon eine ganze Weile zu tun, da wirst du gelernt haben, was sie verstehen, aufnehmen können, wirst ein klares Bild davon haben, was möglich ist und was nicht, denn …”

“ … sie sind keine Tiger, ich weiß.” Vran Bulosz seufzte. “Keine Löwen, keine Panther. Sie sind auch keine Eisbären, keine Lipizzaner, nicht einmal Ackergäule sinds, denen man sich mit einem Knuff mitteilen muss statt einer Geste!”

“Was kümmert dich dann alles Nachdenken darüber, wie du dich ausdrücken könntest, dass sie verstehen können, dich, ob nun mehr oder besser, selbst das ist doch alles müßig, Vran!”

“Ja, müßig!”

“Vergeudete Zeit und Liebesmühen ist es, Vran, wenn dir der Sinn nach mehr als deinem Zirkus steht, du deine Fähigkeiten verbessern willst und anderen Kalibern als den gewohnten dich verständlich machen wollend gegenüberstehen.”

“Und neue Erfahrungen sammeln.”

“Eben!”

“Und meine Fähigkeiten verbessern!”

“Genau!”

“Hm …” Schweigen. Mit Einbruch der Dunkelheit war es deutlich kühler geworden, die beiden fröstelte, Hrava Oluni zog seine Weste zu und Vran Bulosz streifte die Jacke über, die er über die Lehne der Bank gelegt hatte.

“Du, Hrava?”

“Ja, Vran?”

“Was ist eigentlich mit den Tigern in deinem Zirkus, wie macht ihr das?”

“Ich habe keine Raubtiere, Vran …”

“Nein? Bist du dir da wirklich sicher, Hrava?” Bulosz schmunzelte.

“Nun, Vran, so sicher wie man sich sein kann bei diesen Gästen, denen gegenüber ich mich ausdrücken möchte und nicht verständlich machen - und die von mir erwarten …”

“Zuwendung, eindeutige Zeichen und Signale, Können, sie müssen verstehen kön-nen, in der Laaa…ge sein …” Vran Bulosz dehnte die Worte und ließ Revue passieren.

“Nein, Vran”, Hrava Oluni schmunzelte. “Meine nicht, meine wollen unterhalten werden. Das ist alles. Das genügt ihnen. Den meisten jedenfalls. Und mir solls recht sein.” Ein Lächeln verklärte sein Gesicht. “Schon lange habe ich drangegeben, ihnen mehr von mir mitgeben zu wollen und dem, was mich bewegt, als sie selbst zu erkennen und aufzunehmen in der Lage sind. Niemand fragt danach. Doch wer zu erkennen und aufzunehmen in der Lage ist, hat die Wahl.”

“Du meinst dein Publikum, Hrava?”

“Ich meine die, Vran, die sich mir gegenüber niederlassen und zuhören.”

Vran Bulosz schwieg. Hatte sich in einem Gedanken verloren. Vielleicht dachte er an eine mündliche Prüfung und die Menschen, die sich damals ihm gegenüber niedergelassen hatten und zuhörten in Erwartung der Bestätigung dessen, was ihnen selbst längst klar war und vertraut. Vielleicht aber auch wieder im Gedanken, was wohl Kritikfähigkeit ausmacht. Dabei gab es keinen Horizont mehr. Den hatte die wolkenverhangen kühle Nacht verschluckt. Nur das hell erleuchtete Zirkuszelt Olunis strahlte Wärme aus und so etwas wie Behaglichkeit. Ein Orchester hob an zu spielen. Hrava Oluni erhob sich von der Bank, strich seine Kleidung glatt und reichte Vran Bulosz die Hand:

“So, Vran, ich muss, ich bin der Clown!”

“Ja, Hrava! Und ich kein Dompteur. Das weiß ich jetzt sicher, Danke, dass du dir die Zeit genommen - und noch mehr dafür, dass du sie mir geschenkt hast!”

“Ach …” Hrava Oluni umarmte Bulosz freundschaftlich, klopfte ihm aufmunternd den Rücken, dann wandte er sich zum Eingang des Zelts, verschwand im Licht und im nun auflebenden Spiel des Orchesters, das für diesen Augenblick den Vorplatz flutete.

Vran Bulosz krempelte die Hemdsärmel hoch und wandte sich seinem eigenen Zirkus zu. Fütterungszeit.

 

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